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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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unmerklich, das ihn den Veteranen, die in den Tod gingen, gleichstellte. Roschtschin schaute immer wieder zu Nikita, konnte sich aber nicht entschließen, zu ihm zu gehen und ihn anzusprechen, wie Nikita gestern nicht gewagt hatte, sich den Alten zu nähern.
    Nun faßte Nikita mal den einen, mal den anderen unter und hörte sich geduldig die Einzelheiten ihrer Biographien an. Er wollte sie in sich aufnehmen, all diese zum Untergang verurteilten Leben, sein Gedächtnis, sein Körper würden wie ein sichereres Gefäß für sie sein. Er wollte sie bewahren und irgendwohin tragen. Wohin, wußte er nicht. Die Alten akzeptierten ihn ganz selbstverständlich in der Rolle des Chronisten und übergaben ihm der Reihe nach ihre Geschichten.
    Gegen Abend hatte Nikita sämtliche Tabletten verteilt. Sie gingen nun schon sehr langsam. Und froren. Aber niemand klagte.
    »Uns hat der Krieg erzogen«, sagte Matwej Iwanowitsch ohne jedes Pathos, als Roschtschin etwas von seelischer Stärke sagte. »Wir können mit Würde sterben.«
    »Trotzdem verstehe ich das nicht – warum gehen Sie zu ihm?« fragte Roschtschin nervös, nun endlich zum Redenentschlossen. »Das ist doch, als würde ich mit meinem Verstand und Talent, wie man so sagt, zum Präsidenten gehen, die Wahrheit suchen! Dabei weiß ich doch, daß das nichts ändern wird!«
    »Aber du gehst doch auch!« erwiderte Matwej Iwanowitsch lachend.
    »Nein, nicht so, ich gehe nicht zu ihm. Ich gehe mit euch. Aber ihr, was wollt ihr bei ihm?«
    »Wir gehen ja auch nicht zu ihm!«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Was gibt’s da zu verstehen? Wir wollen nicht zu ihm, und Schluß.«
    »Zu wem denn?«
    »Zu dir«, sagte der Alte überraschend und sah Roschtschin aufmerksam an. »Und zu ihm da, zu Nikita, und zu Gennadi. Zu euch. Hast du etwa gedacht, wir wollen zum Präsidenten? Zu viel der Ehre!«
    Bei Sonnenuntergang kamen wieder Fernsehleute. Nikita wurde übel, als er sah, wie sie nach dem günstigsten Blickwinkel suchten, um die Alten zu filmen, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten – fehlte nur noch, daß sie sie vor der Kamera posieren ließen.
    »Drehen Sie sich ein bißchen herum, sonst blendet die Sonne«, sagte ein munterer Reporter und schob eine entkräftete alte Frau herum wie eine Puppe. »Sagen Sie, was wollen Sie mit Ihrer Aktion erreichen? Wer hat sie geplant? Ist es wahr, daß die Kommunistische Partei Rußlands Sie bezahlt hat …«
    Nikita entriß ihm das Mikrophon.
    »Seid ihr denn blind?« rief er, in einen Abgrund stürzend. »Seht ihr das denn nicht? Sie gehen sterben ! Sterben! Was für eine Kommunistische Partei? Was für eine Aktion? Sieschlafen auf der nackten Erde! Das sind doch eure Eltern, ist euch das wirklich vollkommen egal!?«
    »Aha«, reagierte der Reporter nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung. »Sie sind also der Organisator! Sagen Sie, für wen arbeiten Sie? Von wem bekommen Sie Geld?«
    Nikita riß sich zusammen und antwortete, so ruhig er konnte:
    »Ich hatte genau zweihundert Rubel, und dafür habe ich Medikamente gekauft, gegen Herzbeschwerden und Bluthochdruck, und die sind inzwischen alle. Und die Lebensmittel, die erkämpft ein Veteran des Tschetschenien-Krieges, der auch mit uns geht, in jedem Dorf.«
    Dann löste Roschtschin Nikita ab.
    »Unser Präsident pfeift natürlich auf das, was hier geschieht. Wenn ihn ausländische Journalisten hinterher fragen werden, was ist denn mit den alten Leuten, denen Sie die Vergünstigungen gestrichen haben, dann wird er lächeln und sagen: Sie sind gestorben. Über ihn brauchen wir nicht zu reden. Aber ihr! Ihr seid doch im Gegensatz zu ihm Menschen! Tut doch irgend etwas, bringt wenigstens Decken!« Er verschluckte sich, winkte ab und trat wütend beiseite.
    Eine stupsnasige Praktikantin mit Zöpfen, die das Mikrophon hielt, fing an zu heulen und rannte in den Übertragungswagen. Sie kam zurück, drückte Nikita eine Papiertüte mit Sandwiches in die Hand und versprach laut schluchzend, um nichts in der Welt mehr Journalistin werden zu wollen, sondern sich zur Sozialarbeiterin ausbilden zu lassen. Das Fernsehen fuhr weg. Die Sonne war untergegangen. Die Rentner setzten ihren Marsch fort.
    In der Nacht, nachdem der Bericht gesendet worden war, hielten Autos neben der kleinen Prozession. Die Menschenbrachten Decken, Tabletten und Thermoskannen mit heißem Tee. Am Ende des Zuges fuhr nun im Schrittempo ein Notarztwagen. Ein mürrischer junger Arzt lief immer wieder zu den alten Leuten,

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