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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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maß ihnen den Blutdruck, schüttelte den Kopf und setzte ihnen die erforderlichen Spritzen.
    Um drei Uhr nachts wurde die Frau, die auf dem Revier verprügelt worden war, mit dem Notarztwagen fortgebracht. Sie hatte einen Herzanfall. Sie hieß Galina Sergejewna Tolmatschowa. Nikita kannte inzwischen ihr Leben bis in die kleinsten Einzelheiten. Und trug es weiter. Auf der nächtlichen Landstraße, von Petersburg nach Moskau.
    »Ich blickte mich um, und meine Seele wurde wund unter den Leiden der Menschheit«,murmelte Roschtschin, über Steine stolpernd und sich mit Zitaten gegen das unendliche lebendige Grauen dieser Nacht schützend.
    Nikita nahm das Grauen ohne jeden Schutz auf. Mit nackter Seele. Nach und nach versagte sein Verstand. Gegen Morgen redete er auf die Alten ein, sie sollten auf den Präsidenten pfeifen, sie sollten nach Gorki gehen und dort leben. Der Fähnrich und Roschtschin gingen hinter ihm, und Gennadi sagte besorgt:
    »Ich fürchte, das Kerlchen dreht uns durch. Nimmt sich das Ganze zu sehr zu Herzen. Vielleicht sollten wir ihn nach Hause schicken?«
    Bei den ersten Sonnenstrahlen wurden sie plötzlich von unzähligen Kleinbussen mit Satellitenantennen und bedrohlichen schwarzen Autos mit blauen Nummern umringt. Die Alten drängten sich zusammen und blieben Rücken an Rücken stehen. Die herbeieilenden Journalisten erklärten, gleich werde der Präsident persönlich kommen, und stellten hektisch ihre Kameras auf. Doch die Eile war unnötig. Der Präsident ließ dreieinhalb Stunden auf sich warten.
    Roschtschin verscheuchte eine kreischende Fernsehtussi, die den alten Leuten das Gesicht pudern wollte, »wegen der Lichtreflexe«. Aufgelöste Beamte trafen ein, einer der Klon des anderen, sie sonderten ihre Funktionärsphrasen ab und baten die Rentner, nach Hause zurückzukehren.
    Ausländische Journalisten tauchten auf. Eine Korrespondentin der Liberation stellte übereifrig allen ein und dieselbe provokative Frage: »Wer lebt gut in Rußland?«
    Der Notarztwagen brachte die Frau weg, deren Tochter sich aufgehängt hatte. Anna Michailowna Romanowa. Sie hatte einen Kreislaufzusammenbruch erlitten. Zwei Stunden sinnlosen Wartens vergingen. Die Nerven waren nur noch fadendünn, kurz vor der letzten, rauchenden Leere.
    »Ich begreife nicht, was hier vorgeht! Ich verstehe es nicht! Ich weigere mich, es zu verstehen!« sagte Roschtschin immer wieder. Er saß mit dem Rücken zur Fahrbahn am Straßenrand und rupfte stumpfsinnig staubiges Gras aus.

29
    Plötzlich ging ein Ruck durch die Menge, sie geriet in Bewegung und erstarrte dann. Auf der menschenleeren Landstraße war ein unscheinbarer kleiner Mann im grauen Jackett aufgetaucht.
    Mit großer Geste stoppte der kleine Mann seine Leibwächter hundert Meter vor den alten Leuten und ging in stolzer Einsamkeit und geschäftigen Schrittes auf die Gruppe zu. Er hatte nichts zu befürchten. In den dreieinhalb Stunden Wartezeit hatten wortkarge Männer in Zivil jeden Einzelnen mehrfach durchsucht. Beim Fähnrich Gennadihatten sie die Pistole gefunden, mit der er sich im Sprechzimmer des Präsidenten hatte erschießen wollen. Sie hatten Gennadi die Arme auf den Rücken gedreht und ihn in einen der schwarzen Wagen verfrachtet.
    Trotzdem ging der kleine Mann nicht ganz nah an die alten Menschen heran. Er blieb in respektvoll-angewiderter Entfernung stehen und zupfte an seinem Jackett.
    »Wie sieht’s aus, bin ich gut zu sehen?« erkundigte er sich mit seinem üblichen falschen Grinsen bei den Kameraleuten, die an ihren Apparaten klebten. Von der Stimme dieses Pappmaché-Geschöpfs wurde Nikita übel.
    Wenn er nur mit ihnen nicht genauso redet, dachte Nikita noch, und im selben Augenblick hörte er, wie der kleine Mann sich mit demselben zweideutigen Lächeln an die alten Leute wandte:
    »Na, seid ihr ein bißchen gewandert?«
    Nach diesem Scherz erging sich der graue Mann in Phrasen fürs Protokoll über das schwierige Los Rußlands in der zivilisierten Welt, aber Nikita hörte nichts mehr. Wie von außen vernahm er seine eigene Stimme.
    »Wie kannst du es wagen! Du! Du! Spukgestalt! Knie nieder vor ihnen! Auf die Knie mit dir!« schrie Nikita und hörte sich selber mit Interesse zu, wie im Kino. Dann sah Nikita, wie er zu dem grauen kleinen Mann lief und ihn heftig ohrfeigte. Er hatte das Gefühl, eine Puppe im Wachsfigurenkabinett zu schlagen. Schon ganz weggetreten, konnte er sich noch wundern, daß dieser kleine Mann so viele Leibwächter hatte.
    »Hör

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