Endstation Venedig
klappte er den Katalog seiner Kümmernisse zu und beendete seine Duschorgie.
Als er zwanzig Minuten später das Haus verließ, durchflutete ihn ein grenzenloses Wohlgefühl. Obwohl der Morgen kühl war, würde es ein warmer Tag werden, einer dieser herrlichen Sonnentage, mit denen die Stadt im Herbst gesegnet war. Die Luft war so trocken, daß man fast nicht glauben konnte, daß die Stadt auf Wasser gebaut war, obwohl ein Blick nach rechts, während er an verschiedenen Seitengassen vorbei Richtung Rialto ging, dies ausreichend belegte.
An der nächsten Kreuzung wandte er sich nach links zum Fisch-markt, der heute, am Sonntag, geschlossen war, aber dennoch den leichten Geruch nach dem Fisch verbreitete, der dort seit Jahrhunderten verkauft wurde. Er ging über eine Brücke, wandte sich nach links und trat in eine Pasticceria. Dort kaufte er ein Dutzend Gebäckstücke. Auch wenn sie die zum Frühstück nicht alle aufaßen, würde Chiara sie im Lauf des Tages bestimmt wegputzen. Wahrscheinlich schon vormittags. Das rechteckige Paket auf der Hand balancierend, ging er wieder Richtung Rialto und dann nach rechts auf San Polo zu. Am Campo San Aponal hielt er beim Zeitungski-osk an und kaufte zwei Zeitungen, den Corriere und Il Manifesto, von denen er annahm, daß Paola sie heute lesen wollte. Als er zu Hause ankam, schienen die Treppenstufen zu seiner Wohnung fast nicht dazusein.
Er fand Paola in der Küche, wo der Kaffee gerade fertig war. Vom Ende des Flurs hörte er Raffaele durch die Badezimmertür seiner Schwester zurufen:
Komm schon, beeil dich. Du bist schon den ganzen Morgen da drin.
Aha, die Wasserschutzpolizei war wieder in Aktion.
Er stellte sein Paket auf den Tisch und schlug das weiße Papier zurück. Der Berg von Gebäckstücken glänzte von geschmolzenem Zucker, und etwas Puderzucker rieselte auf das dunkle Holz des Tisches. Er nahm sich ein Stück Apfelstrudel und biß hinein.
Wo hast du das her?
fragte Paola, während sie Kaffee eingoß.
Aus der Pasticceria bei Carampane.
So weit bist du gelaufen?
Es ist ein herrlicher Tag, Paola. Laß uns nach dem Frühstück einen Spaziergang machen. Wir könnten zum Mittagessen nach Burano fahren. Ach ja, machen wir das. Der Tag ist wie geschaffen für einen Ausflug.
Er dachte an die lange Bootsfahrt zur Insel hinaus und wie die Sonne das Flickenmuster der knallbunten Häuser be-leuchten würde, auf die sie zufuhren, und seine Stimmung hob sich noch mehr.
Gute Idee , stimmte sie zu.
Und die Kinder?
Frag sie. Chiara will bestimmt mit.
Gut. Raffaele vielleicht auch.
Vielleicht.
Paola schob ihm Il Manifesto zu und nahm sich den Corriere.
Nichts würde geschehen, keine Anstalten zur Würdigung dieses herrlichen Tages getroffen werden, bevor sie mindestens zwei weitere Tassen Kaffee getrunken und die Zeitungen gelesen hatte. Er nahm seine Zeitung in die eine, seine Kaffeetasse in die andere Hand und ging durchs Wohnzimmer auf die Dachterrasse. Er ließ alles drau-
ßen und ging ins Wohnzimmer zurück, um sich einen Stuhl zu holen, den er genau in der richtigen Entfernung vom Geländer aufstellte.
Er setzte sich, kippte mit dem Stuhl leicht nach hinten und legte die Füße aufs Geländer. Dann griff er sich die Zeitung und begann zu lesen.
Kirchenglocken läuteten, die Sonne schien warm auf sein Gesicht, und Brunetti erlebte einen Augenblick absoluten Friedens.
Paola sprach ihn von der Terrassentür aus an: Guido, wie hieß
diese Ärztin noch?
Die hübsche?
fragte er, ohne aufzusehen und ohne recht auf ihren Ton zu achten.
Guido, wie hieß sie?
Er ließ seine Zeitung sinken und drehte sich zu ihr um. Als er ihr Gesicht sah, kippte er den Stuhl nach vorn und nahm die Füße vom Geländer.
Peters.
Sie schloß einen Moment die Augen, bevor sie ihm den Corriere reichte, der in der Mitte aufgeschlagen war.
AMERIKANISCHE ÄRZTIN STIRBT AN ÜBERDOSIS, las er.
Der Artikel war kurz und rasch überflogen. Die Leiche von Captain Terry Peters, Kinderärztin bei der US-Army, war am späten Samstagnachmittag in ihrer Wohnung in Due Ville in der Provinz Vicenza aufgefunden worden. Dr. Peters, die im Armeekrankenhaus in Ca-serme Ederle arbeitete, war von einem Freund gefunden worden, der herausfinden wollte, warum sie am Morgen nicht zur Arbeit erschienen war. Eine benutzte Spritze hatte neben der Leiche gelegen, und in der Wohnung fanden sich weitere Anzeichen von Drogengebrauch sowie Hinweise, daß die Ärztin getrunken hatte. Die Carabinieri und die
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