Endstation
Make-up auch am linken Auge, wickelte dann das Badetuch fester um sich und schaute hinaus auf den Flur. »Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?« rief sie.
Auf dem Flur stand Harry Benson.
»Guten Morgen, Frau Doktor Ross grüßte er mit freundlicher Stimme. »Hoffentlich komme ich Ihnen nicht ungelegen.«
Seltsam, welche Angst sie hatte. Er hielt ihr die Hand hin, und sie nahm sie, ohne sich dessen recht bewußt zu werden. In Gedanken war sie mit ihrer Angst beschäftigt. Warum fürchtete sie sich? Sie kannte diesen Mann recht genau. Sie war schon oft mit ihm allein gewesen und hatte sich nie vor ihm gefürchtet.
Zum Teil war die Überraschung schuld daran. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn hier vorzufinden. Außerdem war ihre Aufmachung mit der Würde einer Ärztin unvereinbar. Sie schämte sich wegen des Badetuchs und ihrer noch nassen Beine.
»Entschuldigen Sie mich für eine Minute«, sagte sie. »Ich muß mich nur schnell anziehen.«
Er nickte höflich und ging ins Wohnzimmer zurück. Sie schloß die Schlafzimmertür und setzte sich aufs Bett. Ihr Atem ging rasch wie nach einem Langstreckenlauf. Das sind die typischen Begleiterscheinungen der Angst, sagte sie sich. Aber die genaue Bezeichnung half ihr nicht weiter. Sie erinnerte sich an einen Patienten, der sie einmal angeschrien hatte: »Sagen Sie mir doch nicht so gelehrt, daß ich deprimiert bin, ich fühle mich einfach saumäßig.«
Sie trat an den Schrank und holte ein Kleid heraus, ohne darauf zu achten, welches eigentlich. Dann überprüfte sie im Bad noch einmal ihr Äußeres. Ich will Zeit gewinnen, dachte sie. Aber das war nicht der richtige Augenblick dafür.
Sie atmete tief ein und ging dann zu ihm hinaus.
Er stand fremd und irritiert mitten im Wohnzimmer. Sie sah diesen Raum plötzlich mit seinen Augen: modern, steril, unfreundlich und unpersönlich. Technische Möbel, schwarzes Leder und Chrom, überall harte Linien. Geometrische Gemälde an den Wänden, alles ganz modern, glänzend, rationell, maschinenhaft. Eine absolut feindliche Umgebung.
»Das hätte ich bei Ihnen nicht erwartet«, sagte er.
»Der eine mag das und der andere etwas ganz anderes, Harry.« Sie schlug einen leichten Ton an. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Nein, danke.«
Er war ordentlich gekleidet, trug Jacke und Schlips, aber die schwarze Perücke störte sie. Und etwas lag auch in seinen Augen. Sie blickten müde und glanzlos, es waren die Augen eines Mannes, der bald vor Erschöpfung zusammenbrechen wird. Ihr fielen die Ratten ein, die an einem Übermaß angenehmer Reize zusammengebrochen waren. Nach einiger Zeit lagen sie ausgestreckt auf dem Boden des Käfigs, keuchend und zu matt, um vorzukriechen und noch einmal auf den Hebel zu drücken. »Sind Sie allein hier?« fragte er.
»Ja.«
Am linken Backenknochen, dicht unter dem Auge, hatte er eine kleine Schwellung. Von seinen Verbänden war nichts weiter zu sehen als ein schmaler weißer Streifen zwischen dem unteren Rand der Perücke und seinem Hemdkragen.
»Stimmt etwas nicht?« fragte er.
»Doch, alles in Ordnung.«
»Sie wirken verkrampft.« Seine Stimme klang echt besorgt. Vielleicht hatte er gerade eine Stimulation empfangen. Sie erinnerte sich, wie nach den Testreizen während der Schaltphase bei ihm das sexuelle Interesse an ihr geweckt worden war.
»Nein, ich bin gar nicht verkrampft.« Sie lächelte.
»Sie haben ein sehr nettes Lächeln«, sagte er. Sie suchte auf seiner Kleidung nach Blutspuren. Das Mädchen hatte schrecklich ausgesehen. Benson mußte danach sicher blutverschmiert gewesen sein, aber an seiner Kleidung ließ sich nichts erkennen. Vielleicht hatte er ein zweites Mal geduscht und sich umgezogen, nachdem er sie getötet hatte.
»Ich möchte jetzt Kaffee trinken«, sagte sie. Fast erleichtert ging sie in die Küche. In einiger Entfernung von ihm fiel ihr das Atmen leichter. Sie setzte den Wasserkessel auf, zündete das Gas an und blieb einen Augenblick stehen. Sie mußte ihre Selbstbeherrschung wiederfinden, wenn sie weiter Herr der Situation bleiben wollte. Eines war seltsam: Sie war zwar erschrocken, als er so plötzlich in ihrer Wohnung stand, aber überrascht hatte sein Besuch sie eigentlich nicht. Psychomotorische Epileptiker sind gehetzte Menschen, die Angst vor der eigenen Gewalttätigkeit haben. Über die Hälfte von ihnen unternehmen aus Verzweiflung Selbstmordversuche. Ausnahmslos aber sind alle verzagt und wünschen sich ärztliche Hilfe.
Warum war er wohl
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