Endstation
noch um ihre Schulter. »Eine scheußliche Sache, das Ganze«, sagte er.
»Wird er wirklich wieder gesund?«
»Klar.«
»Das sah doch gar nicht gut aus »Sie werden sein Kinn schon wieder flicken. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Sie schüttelte sich.
»Frieren Sie?«
»Ja, und müde bin ich, sehr, sehr müde.«
Sie trank mit Ellis im Erfrischungsraum einen Becher Kaffee. Es war halb sieben, und viele Krankenhausangehörige saßen beim Essen. Ellis kaute langsam. Jede seiner Bewegungen verriet die Erschöpfung.
»Seltsam«, murmelte er.
»Was?«
»Ich wurde heute nachmittag aus Minnesota angerufen. Dort ist in der Neurochirurgie eine Professorenstelle frei. Man fragte mich, ob ich daran interessiert sei.«
Sie schwieg.
»Ist das nicht seltsam?«
»Nein«, sagte sie.
»Ich habe geantwortet, daß ich mich nicht festlegen will, bis ich hier fliege«, sagte er.
»Sind Sie sicher, daß man Sie hinauswirft?«
»Sie nicht?« fragte er zurück. Er betrachtete die Krankenschwestern und Ärzte in ihrer weißen Kleidung. »Minnesota mag ich nicht«, murmelte er. »Dort ist es mir zu kalt.«
»Es ist aber eine gute Universität.«
»Ja, das schon«, er seufzte. »Eine großartige Schule.« Sie empfand Mitleid mit ihm, aber dann unterdrückte sie diese Gefühlsregung. Er hatte die Sache ja selbst und gegen ihren Rat ins Rollen gebracht. In den letzten 24 Stunden hatte sie es sich verkniffen, zu irgend jemandem zu sagen: »Ich hab’s ja gleich gesagt.« Sie gestattete sich nicht einmal diesen Gedanken. Erstens wäre das unnötig gewesen und zweitens hätte sie Benson damit nicht geholfen. Darum ging es ihr in erster Linie, das hatte augenblicklich für sie Vorrang.
Aber für den tapferen Chirurgen hatte sie jetzt wenig Sympathie übrig. Tapfere Chirurgen riskieren immer nur das Leben anderer, nie ihr eigenes. Ein Chirurg hat höchstens seinen guten Ruf zu verlieren.
»Ich glaube, wir sollten jetzt in die NPFA zurückgehen«, sagte er. »Mal sehen, wie dort alles läuft. Wissen Sie was?«
»Was denn?«
»Ich hoffe, sie bringen ihn um«, sagte Ellis und ging zum Aufzug.
Die Operation begann um 19 Uhr. Janet stand auf der Beobachtergalerie, sah, wie Morris in den OP gerollt und abgedeckt wurde. Bendixon und Curtis nahmen den Eingriff vor. Beide waren hervorragende plastische Chirurgen. Wenn jemand ihn wieder zusammenflicken konnte, dann waren sie es.
Trotzdem war es schrecklich für sie, als die sterilen Gazepackungen entfernt wurden und sie das rohe Fleisch erblickte. Die obere Hälfte des Gesichts sah blaß, aber sonst ganz normal aus. Die untere Hälfte war nur noch eine rote Masse. Zwischen Fleisch und Blut war kaum ein Mund zu erkennen.
Ellis hatte das alles schon in der Unfallstation gesehen. Ihr versetzte der Anblick selbst aus dieser Entfernung einen Schock. Sie konnte sich vorstellen, wie die Wirkung aus der Nähe sein mußte.
Sie sah zu, wie die sterilen Tücher über den Körper und rings um den Kopf gebreitet wurden. Die Chirurgen trugen bereits Kittel, Masken und Handschuhe. Die Instrumententische waren hergerichtet, die OP-Schwestern standen bereit. Das ganze Ritual der Operationsvorbereitung lief glatt und rationell ab wie immer. Ein großartiges Ritual, dachte sie, streng und so perfekt, daß es unbedeutend war, wer da auf dem Tisch lag. Die Ärzte dachten vermutlich nicht einmal daran, daß sie einen Kollegen operierten. Der feststehende Ablauf bedeutete für den Chirurgen das, was Lachgas für den Patienten war - eine Art Betäubung.
Sie sah noch eine Weile zu, dann verließ sie den Beobachtungsraum.
14
Sie ging hinüber zur Neuropsychiatrischen Abteilung und sah, daß Ellis vor dem Eingang von Reportern eingekreist war. Er beantwortete übelgelaunt ihre Fragen. Sie hörte mehrfach das Wort »Gedankenkontrolle«. Mit ein wenig schlechtem Gewissen schlug sie einen Bogen und betrat das Gebäude durch den anderen Eingang. Dann fuhr sie mit dem Aufzug in den vierten Stock. Gedankenkontrolle, dachte sie. Sicher wird dieser Begriff jetzt in den Sonntagszeitungen ausgewalzt. In den Tageszeitungen erscheinen dann aggressive Leitartikel und in den Fachjournalen wichtigtuerische Abhandlungen, in denen eine verantwortungslose und unkontrollierte Forschung aufs Korn genommen wird. Sie sah das alles kommen.
Gedankenkontrolle, großer Gott.
Sind nicht die Gedanken eines jeden Menschen kontrolliert und ist nicht jeder froh darüber? Die mächtigsten Gedankenkontrolleure auf der Welt sind die Eltern,
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