Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
eigentlich? Und wie würde er merken, wenn er es gefunden hätte? Er war nur ein ganz normaler zwölfjähriger Junge, der nicht mal besonders gut lesen konnte. Und doch war er überzeugt, wenn er nachforschen und sich in die Suche vertiefen würde, dann würde er möglicherweise einem Geheimnis auf die Spur kommen — einem Geheimnis, das vielleicht im Papier verschlüsselt war und das zu einer noch größeren Entdeckung führen könnte.
Aber wie sollte man ein Buch mit leeren Seiten lesen?
Am Ende klappte er das Buch zu und stellte es ins Regal zurück, nicht ahnend, dass die Geschichte sich schon von selber schrieb ...
Mainz
1452
ohann Fust kam in einer kalten Winternacht. Während fast die ganze Stadt unter einer Decke aus sanft fallendem Schnee schlief, bestach er die Wachen, damit sie ihm das eiserne Tor am Fluss öffneten, und ging von niemandem bemerkt durch die Straßen. Ihm folgte ein junger Mann, der einen schweren Schlitten zog.Selbst in der weiß durchwirbelten Dunkelheit konnte Fust den massigen Bau des Doms erkennen, der sich hoch über die anderen Gebäude innerhalb der Stadtmauern erhob. Die Türme, aus Sandstein erbaut, leuchteten bei Tag in kräftigen Rot- und Rosatönen, doch bei Nacht sahen sie aus wie eine in Schatten gehüllte düstere Bergkette. Er schenkte den Türmen nur einen flüchtigen Blick aus zusammengekniffenen Augen, machte einen Bogen um den Dom und hielt sich im Schutz der Fachwerkhäuser, in denen die vornehmen Patrizier wohnten.
Von allen Seiten drangen Gerüche auf ihn ein: der beißende Rauch der Holzfeuer, der scharfe Geruch der Misthaufen, nicht zu reden vom Gestank menschlicher Abwässer, den nicht einmal der Schnee mildern konnte. Ab und zu quiekten Schweine, die in ihren Verschlägen um Wärme kämpften, sonst aber war nur das leise Gleiten des Schlittens hinter ihm zu hören.
Fust wartete, bis der Junge ihn eingeholt hatte.
Peter, der seinem Herrn auf den Fersen gefolgt war, war stehen geblieben, um sich den Schnee von der Stirn zu wischen und seine Hände unter den Achselhöhlen zu wärmen. Er fror bis ins Mark! Fust konnte sich den Luxus eines knöchellangen Umhangs, dicker Handschuhe und Schnürstiefel leisten, Peters Beinkleider aber waren viel zu dünn, um die beißende Kälte abzuhalten. Schlimmer noch stand es um seine niedrigen Schuhe, denn sie konnten den immer höher werdenden Schneeverwehungen nicht trotzen: eisiger Schnee drang ihm bis zu den Knöcheln. Er wünschte sich weiter nichts als ein Feuer, um sich daran zu wärmen, Essen, um sich den Bauch vollzuschlagen, und ein Bett, um seine müden Glieder auszustrecken.
Immer wieder blickte er hinauf zu den hölzernen Schildern, die hier und da über dunklen Türen hingen — sie wiesen in Form von prallen Schweinen öder Weizengarben auf Gasthäuser und Bäckereien hin. Wie sehnte er das Ende der Reise herbei!
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Fust, als habe er Peters Gedanken gelesen. »Wir sind fast am Ziel.«
Fust stieß eine dicke silbrige Atemwolke aus, dann eilte er über einen leeren Platz und bog in ein Gewirr von Wegen und Gassen ein, die sich kreuz und quer wie Risse in gesprungenem Glas hinter dem Marktplatz hinzogen. Seine Schritte knirschten im Schnee.
Peter rührte sich nicht. Beharrlich schien jeder seiner Muskeln die Qualen und Anstrengungen der Reise nochmals zu durchleiden. Von Paris aus waren sie nach Straßburg aufgebrochen, und als sie nicht gefunden hatten, wonach sie suchten, hatten sie sich an den Rheinufern entlang in nordöstliche Richtung nach Mainz aufgemacht: eine Reise von fast vierhundert Meilen. Die gängigen Reisewege direkt am Fluss hatten sie gemieden - die Weinberge lagen zu frei, die Städte waren zu betriebsam -, sie hatten sich stattdessen durch tiefe Wälder und durch Täler gekämpft, die im Winter nahezu unpassierbar waren. Peter glaubte nicht an Gespenster und Erscheinungen, von denen das Gerücht ging, sie würden jenseits der ausgetretenen Pfade hausen, doch Fusts ständige Heimlichtuerei irritierte ihn. Was verschwieg ihm der Mann?
Peter wölbte seine Finger vor dem Mund und blies hinein, in der Hoffnung, einen Funken von Gefühl in den Fingerspitzen zu entfachen. Sie waren wahrlich an feinere Arbeiten gewöhnt! Noch vor knapp einem Monat hatte er in einer der hervorragendsten Bibliotheken von Europa gesessen, in der St. Viktor Bibliothek in Paris, wo er bei den besten Schreibern die Kunst der Kalligraphie erlernt hatte. Er war stolz
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