Endzeit
nicht mehr geweint, seit ich Max verloren habe. Ich bin jetzt ruhiger, aber in meinen Beinen kribbelt es noch immer wie tausend Nadelstiche, wie das Flackern eines Schwarms winziger Leuchtkrebse – eine aufreizende Erinnerung daran, dass meine unteren Gliedmaßen zwar nicht mehr auf Befehle reagieren, aber durchaus noch in der Lage sind, seelischen Stress wahrzunehmen und parallel dazu ebenfalls Unruhe zu stiften.
»So, bitte sehr. Katastrophenhilfe«, sagt Harish Modak und deutet auf das Essen. Ich betrachte die aromatischen französischen Käse, die Gänseleberpastete, die winzigen Samosas, die belgischen Pralinen, die Lindt-Schokolade, den Beutel Litschis und den türkischen Honig und revidiere meine Meinung. Harish Modak ist wohl doch kein Asket. »Wenn Sie ablehnen, wäre ich sehr gekränkt.«
»Dann nehme ich einen Kaffee-Cognac-Trüffel«, sage ich und bediene mich. »Und noch einen.« Ich merke, dass ich kurz vor dem Verhungern bin. Zucker ist jetzt genau das Richtige.
»Wie fühlen Sie sich?«
Ich frage mich, ob er mich auf der Toilette hat weinen hören. »In meinem Beruf stelle gewöhnlich ich diese Fragen. Jedenfalls bis vor Kurzem. Bethany erinnert mich immer daran, dass das mein Job ist. Aber es ist auch meine Methode, Menschen besser |287| kennenzulernen, eine andere kenne ich nicht. Ich würde also lieber Sie fragen, wie
Sie
sich fühlen.«
»Na schön«, sagt er und erwidert mein Lächeln. Die Pralinen wirken, sie wärmen und liebkosen mich von innen.
» Na schön
. Ich mag diesen Ausdruck, Sie nicht? Er ist so wunderbar britisch.«
»Also, wie fühlen Sie sich?«
»Genau jetzt?« Ich nicke. Er wirkt belustigt und runzelt nachdenklich die Stirn. »Falls es um die augenblickliche Situation geht, würde ich sagen: besorgt und fasziniert. Aber auch vorsichtig.«
»Und die allgemeine Situation?«
»Ah, das ist eine umfassende Frage. Sprechen wir jetzt über die Welt als solche?«
»Was könnte wichtiger sein?«
»Dann lautet die Antwort: ebenfalls besorgt und fasziniert. Und noch mehr als das: Ich fühle mich betrogen, weil ich nicht die Welt in fünfzig Jahren sehen kann.« Er setzt sich auf einen Stuhl mit gerader Lehne. Er bewegt sich wie ein Mensch, der unter chronischem Rheuma leidet. »Mehr als alles auf der Welt möchte ich die Zukunft sehen. Ich möchte sehen, wie sich das Leben entwickelt.«
»Eine erstaunliche Aussage. Immerhin sind Sie der führende Vertreter der Ansicht, dass sich das Leben gar nicht mehr entwickeln wird«, sage ich und trinke noch einen Schluck Whisky, der meinen Brustkorb erglühen lässt.
»Jedenfalls nicht für die meisten Menschen. Aber der Niedergang des
Homo sapiens
als dominanter Art bedeutet für Millionen anderer Lebensformen den Anbruch einer neuen Ära. Und für die interessiere ich mich.« Falls das hier Small Talk ist, frage ich mich, wie erst eine richtige Unterhaltung mit ihm aussieht. Er holt ein Taschenmesser mit Horngriff aus der Brusttasche seines Jacketts, klappt es auf und schneidet sich ein bescheidenes Stück vom Ziegenkäse aus den Pyrenäen ab. »Geologisch betrachtet sind wir erst einen kurzen Augenblick hier«, sagt er und mustert |288| den Käse, als hätte er ein Scheibchen Gehirn auf einem Objektträger vor sich. »Meine Frau war eine der führenden Expertinnen für das späte Perm. Damals wurde das Leben auf dem Planeten fast gänzlich ausgelöscht. Doch innerhalb von ein oder zwei Erdzeitaltern hatte es sich äußerst wirksam regeneriert.« Er schenkt sich einen Whisky ein und lässt die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Glas kreisen. »Vor Jahrmillionen war
Lystrosaurus,
ein reptilienähnlicher Vorfahr des Schweins, der Herr im Haus. Eine Katastrophen-Spezies, ähnlich wie die Pilze, wie geschaffen für die Zeit nach einem belastenden Ereignis, da sie sich von verwesender organischer Materie ernährt. Vor zweihundertfünfzig Millionen Jahren feierten die Pilze eine wahre Orgie. Genau wie die Schleimaale. Das wohl hässlichste Geschöpf des Meeres, aber ein äußerst erfolgreicher Aasfresser.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«
Er lächelt unwillig, als wüsste er es eigentlich besser. Die umschatteten Augen schimmern wie alte Murmeln. »Wenn Sie einmal blinzeln, haben Sie nach den zeitlichen Maßstäben des Lebens auf diesem Planeten den
Homo sapiens
schlichtweg verpasst. Wir sind völlig irrelevant.« Die Vorstellung scheint ihm zu gefallen. Er schneidet sich ein zweites Stück Käse ab und steckt es in den Mund.
»Wir
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