Endzeit
waren uns nicht sicher, ob Sie kommen würden.«
Er schaut zur Seite. »Ich mir auch nicht.«
Sein Unbehagen verrät, dass die Entscheidung aus einem Drang erwuchs, der in den tiefen Schichten seiner Psyche schlummert, einem Drang, den er nicht benennen kann oder will. Ich bestehe auch nicht darauf. Entweder kommt er von selbst zutage oder gar nicht. »Und nun, da Sie hier sind?«
Er deutet mit der Spitze des Taschenmessers auf mich. »Nun habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie dramatisch ernst Sie dieses interessante Kind nehmen. Das lässt einen nicht unberührt. Ich kann nur hoffen, dass sich das Experiment gelohnt hat.«
|289| »Aber wenn Bethany etwas Eindeutiges sehen sollte …«
»Ich bin unter der Voraussetzung hergekommen, dass sie bereits etwas gesehen hat.«
»Das ändert nichts an meiner Frage. Wie werden Sie reagieren?«
»Bevor ich mich anschicke, die Brücke zu überqueren, muss ich die Brücke erst gesehen haben. Und beurteilen, ob man sie überqueren kann.« Irgendwo im Haus hört man Ned, der Bethany gut zuredet. Sie ruft, er solle sie verflucht noch mal in Ruhe lassen. Ein Zweifel bleibt. Warum ist Modak wirklich hier? Ned hat angedeutet, es könnte schwer sein, ihn zum Handeln zu bewegen, selbst wenn wir ihn überzeugt haben. Allerdings erwähnte er auch Modaks Neugier. Ist es denkbar, dass allein sie ihn hergelockt hat? Falls ja, wie weit wird sie reichen? Welchen Hebel kann man ansetzen, falls er auf stur schaltet?
»Wie war Meera?«, frage ich. Er wirft mir einen abwehrenden, verstörten Blick zu. »Sie waren lange verheiratet. Sie müssen sie vermissen.«
»Dürfte ich Ihnen als Psychologin eine Frage stellen?« Er klingt noch immer spielerisch, aber ich spüre die Veränderung und nicke. »Sie wollte, dass ihre Asche im Ganges verstreut wird, aber ich habe etwas davon behalten. Als die Urne aus dem Krematorium kam, verspürte ich den sonderbaren Drang, sie zu essen.« Ah. Nun kommt Bewegung in die Sache. »Ist es ein bekanntes Syndrom, wenn man seine andere Hälfte verzehren möchte?«
»Ich habe in der Literatur darüber gelesen. Dieser Drang tritt überraschend häufig auf.«
»Betrachten Sie es als Form von Kannibalismus?«
»Sie denn?«
»Meine inneren Geschworenen haben sich noch nicht geeinigt.«
»Es ist kein Verbrechen, wenn Sie sie bei sich haben wollen. Ich stelle es mir tröstlich vor, selbst nach dem Tod noch ein Fleisch zu werden. Sie haben dem Drang also nachgegeben.«
|290| Er lächelt und entblößt Zähne von der Farbe alter Klaviertasten. »Dr. Melville hatte mir schon gesagt, Sie seien gut.« Ich werde rot. Er greift in die Aktentasche, holt ein kleines Marmeladenglas mit körniger Asche hervor und hält es ehrfürchtig in die Höhe. Dann grinst er. »Die Essenz von Meera.«
Plötzlich verspüre ich den unwiderstehlichen Drang, herauszufinden, ob er sie wie ein Gewürz auf sein Essen streut oder wie Medizin hinunterschluckt, doch nun ist Diplomatie gefragt.
»Sie war sicher eine beeindruckende Frau.«
»Genau wie ich glaubte sie, dass unser Leben nach dem Tod rein organisch verläuft. Ich habe keine Angst vor dem Tod, der Umwandlung der Materie vom Tierischen ins Mineralische. In meinem Alter fürchtet man sich nicht mehr davor.«
»Also haben Sie alles erreicht, was Sie wollten?«
»Ich bin zu gewissen Schlussfolgerungen über unsere Spezies und ihr Schicksal gelangt. Schlussfolgerungen, auf die viele Menschen lieber nicht hören wollen.«
»Sie haben eine ganze Bewegung begründet. Mit autarken Siedlungen in aller Welt. Ich habe durchaus den Eindruck, dass eine Menge Leute auf Sie hören.«
»Nicht aufmerksam genug.« Sein Mund bildet eine schmale Linie wie bei einer Schildkröte.
»Sie und Meera haben keine Kinder. Ich nehme an, das war Ihre private Reaktion.«
»Warum sollte man einer Zukunft, die sich so deutlich abzeichnete, Geiseln liefern? Es war eine Entscheidung, um Kummer zu vermeiden. Für einen selbst, aber auch für andere.« Aus reiner Gewohnheit registriere ich, dass er das unpersönliche »man« gewählt hat. »Die Welt ist zu voll, aber die Kinderlosen werden immer bestraft. Es ist schon paradox, dass man für eine letztlich altruistische Entscheidung als selbstsüchtig gebrandmarkt wird.«
Seit sich das Gehirn meines Vaters aufgelöst hat, vermisse ich die Gesellschaft älterer Männer. Professor Modak allerdings wirft beunruhigende Fragen auf, statt Tochtergefühle in mir zu wecken. |291| Angenommen, er mit seinem
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