Endzeit
brüllen. Ich renne zur Tür, schaffe es aber nicht, mir ist schwindlig. Sie hält mich fest und fängt wieder mit dem Teufel an, und sie will einfach nicht aufhören, und sie versperrt mir die Tür, lässt mich nicht vorbei, und dann packt sie mich an den Haaren und fängt an, mich zu schütteln, und schreit, dass ich eine undankbare, böse Missgeburt bin und warum ich nicht einfach sterbe. Ich liege zusammengekrümmt auf dem Boden. Dann ist da plötzlich der Schraubenzieher. Als hätte er darauf gewartet, dass eine von uns ihn benutzt.« Sie lacht. »Als hätte Gott ihn dorthin gelegt.«
Ich nicke. »Erzähl weiter.«
»Also packe ich ihn und ramme ihn in sie hinein.« Ich versuche, mir das nicht vorzustellen. Vergeblich. »In ihre Kehle. Aber sie hört nicht auf. Sie lässt mich einfach nicht los. Also ramme ich ihn noch mal in sie hinein. Als sie hinfällt, geht es leichter. Ich halte sie einfach fest und stoße ihn immer wieder in sie hinein. Überall. Und es tut so verdammt gut.«
Ihr Gesicht hat Farbe bekommen, als hätte die Erinnerung ein Feuer entfacht. Dann wird es ebenso schnell wieder bleich, und |320| sie schaut auf ihre Hände. Eine lange Stille, wie ein Gähnen, das zwischen uns im Raum hängt. Ein Vogel schreit. Dann wendet sie sich zu mir, der Schmerz leuchtet aus ihren Augen.
Ich rolle näher an sie heran. »Es war die Aufgabe deiner Mutter, dich zu beschützen. Dazu sind Eltern da. Was sie mit dir gemacht haben, war falsch.« Ich erinnere mich, wie Leonard Krall mit offener Miene sagte:
Selbst wenn furchtbare Dinge passieren. Und Gott sie zuzulassen scheint … Viele Dinge, die für uns keinen Sinn ergeben, besitzen für ihn durchaus einen Sinn
. Besitzt es für Gott einen Sinn, wenn Menschen ihre eigene Tochter foltern? Leonard Krall und seine Frau Karen müssen sich das wohl eingeredet haben. »Wenn dir jemand etwas Ungeheuerliches angetan hat, ist es nur verständlich, dass sich für dich die Regeln geändert haben.« Mein Herz hämmert. Wenn Karen Krall hier vor mir stünde, würde auch ich sie vielleicht töten wollen.
»Genau das ist passiert«, sagt sie. »Die Regeln haben sich geändert.«
Sie sinkt zurück aufs Sofa. Zeit und Gedanken gerinnen in mir, verhärten sich wie ein Gipsverband. Ihr Gesicht ist nass. Ich tupfe es mit einem Taschentuch ab. Sie zuckt zusammen, lässt es aber geschehen.
»Gabrielle.« Sie flüstert, als würde uns jemand belauschen. »Ich habe uns gesehen. Ich habe Sie und mich gesehen.«
»Wo hast du uns gesehen?«
»Oben am Himmel.« Ich warte ab. »Aber wir sind auseinandergegangen.«
»Wohin denn?«
»Nach dem Donner sind wir zum goldenen Kreis gegangen. Dann waren wir hoch oben in der Luft. Aber Sie sind an einen Ort gegangen und ich an einen anderen.«
»Sieh mich an, Bethany.« Sie schaut langsam hoch, und unsere Blicke begegnen sich. Ihre Augen glitzern. »Bethany. Wir werden nicht auseinandergehen. Ich lasse dich nicht allein.«
Sie schüttelt langsam den Kopf, als wäre er unendlich schwer. |321| »So funktioniert es nicht. Aber ich wollte Ihnen sagen, dass es in Ordnung ist. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen.«
»Worüber?«
Sie scheint durch mich hindurchzublicken, auf etwas hinter meinem Kopf.
»Darüber, wie es zu Ende geht.«
|322| 14
Wie betäubt komme ich in die Küche. »Ich habe eben mit Ned gesprochen«, sagt Frazer Melville und blickt von seinem Laptop auf. Ich habe Bethany auf dem Sofa zurückgelassen, wo sie katatonisch die Wand anstarrt. »Wie ist es mit Bethany gelaufen?« Nachdem ich eine kurze Zusammenfassung geliefert habe, seufzt er tief. »Mein Gott. Das arme Kind. Kein Wunder, dass sie völlig verkorkst ist.«
»Was gibt’s Neues aus London?«
»Die seismischen Daten wurden im Internet veröffentlicht. Die gute Nachricht ist, dass einige prominente Wissenschaftler zu uns stoßen.«
»Wer?«
»Kasper Blatt, Akira Kamochi, Walid Habibi, Vance Ozek.« Ich verbinde keine Gesichter damit, aber die Namen kommen mir vertraut vor. »Die schlechte Neuigkeit ist, dass sie sonst überall auf Granit beißen. Niemand will es wahrhaben. Allerdings verbreitet sich das Gerücht im Internet, und die Daten sind für alle einsehbar. Ned sagt übrigens, wir sollten uns die Nachrichten anschauen.« Ich schalte den Fernseher ein und suche BBC World. Ein weiteres gescheitertes Attentat auf den iranischen Präsidenten, drei Leibwächter sind dabei umgekommen. Man zeigt einen blutbefleckten Gehweg. Weitere Hungerrevolten in
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