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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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die wie ein Embryo in einem schlummerte, ausgelöscht wurden.
    Und dann wacht man auf.

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    Selbstanalyse ist eine schlechte Angewohnheit, der ich mich unter dem Vorwand, »an mir zu arbeiten«, regelmäßig hingebe. Natürlich wollte ich etwas beweisen, als ich an diese Klinik ging, die einzige, die mich nehmen wollte, wo ich aber keine Freunde habe. Was aber wollte ich beweisen? Dass ich unabhängig bin? Dass ich einfach weitermachen kann? Dass ich mein früheres Leben hinter mir lassen kann? Meine eigene Verdrehtheit? Wenn ich mir anschaue, was in der Welt passiert, frage ich mich eines: Projiziere ich meine eigenen inneren Dramen auf die gesellschaftliche Landschaft, oder herrscht in diesen langen, überhitzten Sommerwochen tatsächlich eine Atmosphäre der Leichtfertigkeit, Rücksichtslosigkeit? Eine allgemeine Malaise, die jenseits der Norm zu liegen scheint, nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt, einer Welt, die überfrachtet, klaustrophobisch, konsumverrückt und zu dicht für ihre eigene Masse ist? Am liebsten würde ich nicht mehr Zeitung lesen und fernsehen, aber ich werde allmählich süchtig danach, das ganze Ausmaß des Grauens zu erfahren. Was die Welt beschäftigt, ist eine ebenso beunruhigende wie giftige Mischung: Geld (zu wenig), Krankheit (zu viel), territoriale Kämpfe, rassistische Hinrichtungen, explodierende Ölpreise, Internet-Stalker, islamistischer Terror, die neue, von Fliegen übertragene Malaria, schmelzende Polkappen, aggressive Sekten in China, Betrügereien mit Verschmutzungsrechten, der Aufstieg der Planetarier, der Einzug des »Intelligent Design« in die Lehrpläne der Schulen, Verhütung, Überbevölkerung und die neue christliche Bewegung, deren Mitglieder »stolz sind, Fundamentalisten zu sein«. Allein in Großbritannien gibt es inzwischen |58| fünfzigtausend Kirchen der
Glaubenswelle
wie jene, in der Bethany aufwuchs. Vor zehn Jahren waren es noch fünfhundert. Unterdessen klafft die Gewalt im Iran und in Israel im Fernsehen wie eine offene Wunde und ist so vorhersehbar in ihrer blutigen Grausamkeit, dass die verstümmelten Kinder und heulenden Frauen zu einem Spektakel schrumpfen, bei dem man kurz erschauert, bevor man zu einer japanischen Gameshow umschaltet. Der gut gemeinte Optimismus dieser Unterhaltungssendungen mit ihrer frechen Dämlichkeit und den platten Witzen bietet einen Gegenpol zur schmerzhaften Wirklichkeit. Immer mal wieder drängt sich ihr derber Übermut in meine Gedanken, während ich meine Bahnen ziehe, ebenso wie mein spanisches Kahlo-Mantra und Bruchstücke von absurden erotischen Phantasien, die schrecklich irrelevant sind.
    Als ich zur nächsten Sitzung im Kunstraum erscheine, ist Bethany mitten in einer manischen Phase und brüllt die stämmige Krankenschwester an, weil irgendwelche Schneckenhäuser aus ihrer Nachttischschublade verschwunden sind. Da mich ihre Fähigkeit, meine Schwächen zu erkennen und zu attackieren, noch immer nervös macht, bleibe ich wachsam und wahre Distanz.
    »Es waren fünfundzwanzig, und jetzt sind es nur noch zwanzig, Scheiße noch mal! Kannst du mir das vielleicht erklären? Wie wäre es mit: Heidi ist eine Scheiß-Kleptomanin. Sie klaut Sachen, das weiß doch jeder, so sieht ihre Diagnose aus! Hey, demnächst kommt übrigens ein Erdbeben, das Istanbul zerstören wird«, sagt sie, als sie mich hereinkommen sieht. Schon sind die gestohlenen Schneckenhäuser vergessen, und sie steigert sich in ihr neues Thema hinein: Das Erdbeben werde »sieben Komma irgendwas« erreichen und »massenhaft Leute« töten. Oh, und ein Vulkan wird auf einer Insel ausbrechen, deren Namen sie nicht weiß, irgendwo im Pazifik – sie könnte sie mir aber auf einer Karte zeigen, wenn sie eine hätte. Im Südatlantik wird am neunundzwanzigsten ein Hurrikan zuschlagen. »Kawumm! Und den Tornado, der gerade den Mittleren Westen Amerikas getroffen hat, habe ich auch |59| vorhergesagt, Roller. Das kann ich sogar beweisen«, sagt sie beschwingt und wedelt mit einem großen rot-schwarzen Notizbuch. »Jau! Eindeutiger Beweis! Nachweis noch nie gesehener Dinge!«
    »Darf ich mal?« Sie gibt es mir. »Soll ich vorn anfangen?«
    Sie lacht. »Sie können überall anfangen. Von mir aus können Sie es auch auf den Kopf drehen. Sie glauben es sowieso nicht.«
    Ich schlage das Notizbuch in der Mitte auf und entdecke ein Durcheinander von Bildern, die mit dunklem Bleistift und Kugelschreiber auf die Seite tätowiert sind. Die Stifte haben tiefe

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