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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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neuroendokrine System stimuliert und die Stresshormone ausgleicht. Einer anderen zufolge geht es nicht um eine Neuordnung der Hormone, sondern um chemische Vorgänge im Gehirn. Wieder andere vermuten, dass einfach nur Gehirnzellen |52| ausgelöscht werden. Ich bin allerdings der Ansicht, dass sie sich in diesem Fall auch
erneuern
. Und zwar auf
konstruktivere
Weise.«
    Als Bethany von einer Krankenschwester auf einem Rollbett hereingeschoben wird, erkenne ich sie zuerst gar nicht. Sie trägt einen weißen Krankenhauskittel und hat das Haar straff zurückgekämmt. Ungeschminkt sieht sie noch jünger aus. Als sie mich am Ende des Raums entdeckt, zeigt sie auf ihre Stirn, schreibt einen Blitz in die Luft und lächelt triumphierend wie ein Terrorist, dessen Forderungen soeben erfüllt wurden.
    Das EK T-Gerät ist unspektakulär. Es besteht nur aus einem viereckigen Kasten mit bunten Kabeln und einem Drehknopf.
    »Bethany, es ist jetzt Zeit für die Infusion«, sagt Dr.   Ehmet ganz sachlich. Sie haben das offenbar schon oft gemacht. Sie hält ihm das magere Ärmchen hin. Es ist übersät mit Zickzack-Linien von Rasierklingen. »Sie erhält Brevital intravenös«, erklärt Ehmet, der Blickkontakt mit mir aufnimmt und deutlich artikuliert spricht. »Ein Narkosemittel.« Bethanys Augen schließen sich wie die der Puppen, die ich als Kind hatte. Sie fielen ins Koma, sobald man sie in die Waagerechte brachte. Ihr Gesicht mit dem wechselhaften Mienenspiel entspannt sich sofort, als hätten ihre Gesichtszüge vorübergehend Frieden miteinander geschlossen. Die Krankenschwester legt einen weiteren Zugang. »Ein Entspannungsmittel für die Muskeln«, erklärt Dr.   Ehmet. »Um Knochenbrüche und Wirbelverletzungen zu vermeiden. Immerhin lösen wir einen epileptischen Anfall aus.« Dr.   Ehmet gehört zu den Menschen, die andere gern belehren. Da ich mich bereits über das Verfahren informiert habe, hat er mir bis jetzt nichts Neues gesagt, aber die praktische Anwendung samt Erläuterungen interessiert mich schon. Die Krankenschwester wischt mit einem feuchten Lappen über Bethanys Stirn, schiebt ihre Lippen sanft auseinander und setzt ihr einen Mundschutz aus Gummi ein. »Um Verletzungen der Zunge zu verhindern.« Dr.   Ehmet bestreicht zwei gepolsterte Elektroden mit Gel und schiebt Bethany eine Atemmaske über Mund und Nase. Als der Anästhesist |53| nickt, legt er die Elektroden an ihre Schläfen und hält sie dort fest.
    »Ich leite jetzt elektrischen Strom in ihr Gehirn. Eine Dosis der Stufe zwei, die genau zehn Sekunden lang einen Grand-mal-Anfall auslöst. Das Timing ist alles.«
    Obwohl es noch immer keine Anzeichen gibt, dass etwas geschieht – keine Krämpfe, keine Zuckungen, keine Geräusche   –, überkommt mich unerwartet Ekel. Ich muss würgen. Es erinnert mich an Filme von Tierversuchsgegnern, in denen man körnige Aufnahmen eines bedauernswerten Makaken sieht, der an einen O P-Tisch geschnallt ist. Dr.   Ehmet behält die Uhr im Blick. »Und Schluss.«
    Er entfernt die Elektroden. Bethanys Zehen spannen sich an und strecken sich wieder, wie Farnblätter, die sich im Zeitraffer entrollen. Dr.   Ehmet bedeutet mir, näherzukommen. Ich stelle mich neben Bethanys Kopf und widerstehe dem sonderbaren Drang, die Stellen zu berühren, an denen sich die Elektroden befunden haben.
    »Das war’s schon. Erledigt. Es ist nur ein leichtes Narkosemittel, sie wird in wenigen Minuten aufwachen. Dann sieht sie nicht gerade aus wie das blühende Leben. Aber sie wird sich wie neugeboren fühlen.«
    Fünf Minuten später öffnet Bethany die Augen, stöhnt und gähnt. Dr.   Ehmet hat recht, sie sieht wirklich nicht aus wie das blühende Leben. Eher monströs: mitgenommen, verschlafen, besoffen, ein Blick in die Zukunft, Bethany mit vierzig. Ihre Pupillen sind stark geweitet, und als sie sich mühsam aufsetzt, hält sie sich den Kopf, als wäre ihr Gleichgewicht gestört.
    »Weißt du, wie ich heiße, Bethany?«, frage ich.
    Gedächtnisverlust ist die schwerwiegendste Nebenwirkung. Bethany kann sich tatsächlich nicht an mich erinnern, aber das scheint ihr nichts auszumachen.
    »Ich habe einen riesigen Strudel aus Wind gesehen«, krächzt sie. »Scheiße, der war unglaublich.« Die Anwendung scheint ihre |54| Stimme um eine Oktave gesenkt zu haben, sie hört sich an, als käme sie aus einer Toilette oder einer Höhle.
    »Wo?«
    Sie ist verwirrt. »Die Wolken. Sie drehen sich wie eine Spirale. Und dann auf einer Landkarte. Die

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