Endzeit
mir den Rücken zu. Zuerst sehe ich ihn gar nicht, weil der Raum so groß ist und er sich auf Bodenhöhe ganz hinten am Fenster befindet. Er trägt ein Top und Shorts und rudert auf seiner Maschine. Der Raum ist kürzlich in einem verwaschenen Buttermilchton gestrichen worden. Man kann die Farbe noch riechen, irgendwie wohltuend.
Als ich bei ihm bin, drehe ich meinen Stuhl, sodass unsere Geräte sich gegenüberstehen, so nah, dass sich ihr Metall küssen, wenn nicht gar paaren und fortpflanzen könnte. Mein Chef bewegt sich kraftvoll vor und zurück und stößt dabei männliche, |64| rhythmische Laute aus. Seine Armsehnen sind aufs Äußerste gespannt. Er schwitzt wie ein brünstiger Ziegenbock.
»Ich möchte gern mit Ihnen über Bethany Krall sprechen«, sage ich. »In der Akte ist nichts von Joy McConey zu finden. Falls sie sich Notizen gemacht hat, sind sie verschwunden.«
Von seinem fanatischen Fitnesstrieb einmal abgesehen, hat Dr. Sheldon-Gray keine offenkundigen Macken. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass er zu den innerlich Versehrten gehört, die in meinem Beruf so häufig sind. Dennoch verlangsamt sich sein Rudern, als ich Bethany erwähne. Ein Name, der hier offenbar unwillkommen ist.
»Aah«, schnauft er. »Entschuldigung, ich kann jetzt nicht aufhören. Erzählen Sie, ich mache weiter. Uuh.«
»Ich möchte lesen, was Joy geschrieben hat.«
»Selbstverständlich möchten Sie das.«
»Ich darf also?«
»Nein. Aah.«
»Dürfte ich fragen, wieso nicht?«
Er lässt mich warten und beglückt mich mit seinen intimen Lauten, bis er drei weitere Schläge absolviert hat. Dabei behält er Pulsmesser und Digitaluhr im Auge.
»Es wäre nicht – aah – hilfreich.«
»In welcher Hinsicht?«
Er hört abrupt auf zu rudern und reibt sich Gesicht und Hände mit einem Frotteetuch ab. Schaut mich keuchend an. Seine Stimme dröhnt vor Selbstvertrauen, als spräche er zu einer großen Menge. Er wischt sich die Arme trocken.
»Sie ist offiziell krankgeschrieben, aber es steckt leider mehr dahinter. Sie wies Anzeichen einer geistigen Unausgeglichenheit auf. Das spiegelt sich in den Notizen wider. Also habe ich sie aus der Akte entfernt.« Er wirft sich mit einer entschlossenen Alphamännchen-Geste das Handtuch über den Rücken.
»Verstehe«, sage ich, während er an der Digitalanzeige des Rudergerätes herumfummelt, um sie wieder auf null zu setzen. »Tut |65| mir leid, dass sie krank ist. Ich wusste nur, dass sie eine Auszeit genommen hat, aber niemand hat mir etwas Näheres gesagt.«
»Nun, jetzt wissen Sie Bescheid. Wäre das alles?«, fragt er, als das Display leer ist.
Ich antworte nicht. Warte stattdessen ab. Warte noch länger.
»Ich meine, es ist doch nur fair, oder?«, rechtfertigt er sich schließlich. Ich sage noch immer nichts. »Gabrielle, wenn Sie in einem Zustand extremer persönlicher Anspannung einen Bericht über eine Patientin verfassten, der ein schlechtes Licht auf Ihre beruflichen Fähigkeiten wirft, würden Sie ihn wohl auch nicht in der Akte haben wollen, oder?« Unsere Blicke begegnen einander. Seine blauen Augen sind erstaunlich klar und wirken künstlich, wie Glasaugen. Angesichts meiner prekären Lage kann ich mich nicht auf Diskussionen einlassen. »An Ihrer Stelle würde ich mir lieber selbst ein Bild von Bethany Krall machen, Gabrielle. Kommen Sie übrigens gut zurecht?« Ohne auf eine Antwort zu warten, rubbelt er seine seltsam unbehaarten Beine ab und fügt hinzu: »Wir müssen Sie ein bisschen unter Menschen bringen. Hier ist einiges los. Im Armada gibt es demnächst eine große Wohltätigkeitsveranstaltung. Eine gute Gelegenheit für Sie, neue Leute kennenzulernen. Allerdings sind es meist Wissenschaftler«, sagt er entschuldigend.
»Welche Art von Wissenschaftlern?« Das interessiert mich. Mir geht das Bethany-Rätsel einfach nicht aus dem Kopf.
»Der gemeine gefleckte Biologe, der Zweizehen-Statistiker, keine Ahnung. Die üblichen Verdächtigen.«
»Okay.«
»Was okay?« Die Anstrengung hat sein Gesicht so blass werden lassen wie die Buttermilchwand hinter ihm.
»Okay, ich gehe hin. Vielen Dank. Können Sie mir eine Einladung besorgen?«
Er sieht erstaunt aus. »Natürlich. Ich kümmere mich darum. Rochelle meldet sich bei Ihnen.«
|66| Mir selbst ein Bild von Bethany Krall zu machen, ist gar nicht so einfach. Ihre Stimmungen schwanken so extrem wie das Wetter. An manchen Tagen ist sie gesprächig, dann wieder nimmt sie mich kaum zur Kenntnis und
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