Endzeit
ist unterwegs. Die Trübsal beginnt im Oktober. Sie werden noch so genau zuhören, dass Ihnen die Ohren abfallen.«
Das Lachen ist zu laut für die kleine Gestalt. Es klingt wie Flaschen, die man kurz vor Morgengrauen in einem Recyclingcontainer zerschmettert.
Rollstühle haben sich beträchtlich weiterentwickelt, seit die Römer ihre bessere Schubkarre für Reiche erfanden. Nach einer Orgie, bei der sie auf einem gepolsterten Ruhebett gelegen und, sich zwischendurch gelegentlich erbrechend, das Essen aus einem in der Mitte aufgestellten Trog heruntergeschlungen hatten, ließen sie sich fett, betrunken und sexuell gesättigt von einem Sklaven nach Hause schieben. So stelle ich es mir jedenfalls vor, während ich mit der üblichen Heimkehrprozedur kämpfe: Rollstuhl aus Auto, Körper in Rollstuhl, Körper und Rollstuhl zur Haustür, Körper und Rollstuhl zurück zum Wagen, um Einkaufstüte aus |62| Kofferraum zu holen, ins Haus damit, sich einen Sklaven wünschen. Einmal in der Woche kommt ein teiggesichtiges polnisches Mädchen namens Lydia von einer Reinigungsfirma. Sie erledigt auch die schweren Einkäufe und die Wäsche. Eigentlich kann ich das alles selbst, aber es nimmt zu viel Zeit in Anspruch. Das hat mir mein Besuch im Supermarkt gerade eben wieder gezeigt.
Die ganze Zeit, während ich durch die Gänge rollte, musste ich an Bethany denken. Seltsam, wie sie sich in meinem Inneren eingenistet hat, weit mehr als die anderen Jugendlichen, mit denen ich arbeite. Mehr sogar als der kleine Mesut Farouk, der den gestreiften Ballon gebastelt hat, oder Lewis O’Malley, der sich in einer rituellen Selbstbestrafung die Hand abschnitt, oder Jake Ball, der seinen Vater in den Ruin trieb, indem er online Militärausrüstung auf Kreditkarte kaufte: lauter zerstörte Kinder, kleine Möchtegern-Terminators, die meine frustrierten Muttergefühle wecken. »Intuitiv« hat Dr. Ehmet Bethany genannt. Ich freue mich nicht auf unsere Sitzungen, möchte aber zu ihr durchdringen. Sie ist wie ein Begriff im Kreuzworträtsel, der mir einfach nicht einfällt. Der mich nachts schweißnass aus dem Schlaf reißt.
Der Abend ist noch immer so brütend heiß, dass die Luft über den Gehweg flimmert. Erst nach einer Weile entdecke ich die Frau mit den blassen Augen. Sie steht wieder auf der anderen Straßenseite, das rote Haar seltsam leuchtend. Unsere Blicke begegnen sich, und sie macht ein Zeichen mit der Hand, als wären wir Geheimagenten, die diese geheime Erkennungsgeste im Ausbildungslager gelernt haben. Ich denke mit gemischten Gefühlen daran, dass psychisch Kranke in betreuten Wohnformen unter uns leben.
Am nächsten Morgen melden die Nachrichten im Radio einen Tornado in Aberdeen. Er kam um sechs Uhr morgens. Fünf Hausdächer flogen weg, eine Tankstelle stürzte zur Hälfte ein. Es gab keine Vorwarnung. Ich würde am liebsten vergessen, dass Bethany davon gesprochen hat. Aber es gelingt mir nicht.
|63| Wie viele erfolgreiche Ärzte ist auch Dr. Sheldon-Gray, der Klinikdirektor von Oxsmith, ein begeisterter Sportler. Sein Büro, das man durch das kleine Vorzimmer mit Sekretärin Rochelle erreicht, erinnert an ein Fitnessstudio. Der breite Schreibtisch steht eingezwängt zwischen einem Rudergerät und einem Laufband. Dr. Sheldon-Gray ist stellvertretender Vorsitzender des regionalen Wasserski-Verbandes und hat in seiner Jugend Meisterschaften gewonnen. Das weiß ich von meiner Kollegin Marion, die mir auch mitgeteilt hat, dass der Arzt seine Wochenenden als Supersportler mit der Familie verbringt – einer sportbegeisterten Frau und drei Jungen im Teenageralter, die sich alle in Neoprenanzüge werfen und sich abwechselnd mit Hochgeschwindigkeit an einem Seil über einen See ziehen lassen. Natürlich beneide ich sie. Ich würde gern zu dieser Familie gehören und mit Behindertensport experimentieren. In der Reha sagten sie, man könne physisch alles erreichen, wenn man es nur wolle: Man brauche nur die Memoiren des jungen Kletterers zu lesen, der nach seinem schweren Sturz ganz China mit einem handbetriebenen Fahrrad durchquert hat, oder die von dem an allen Gliedmaßen gelähmten Amerikaner, der eine Art Rollstuhl-Rugby namens Murderball spielt. Wenn ich mich gut mit Dr. Sheldon-Gray stelle, lädt er mich vielleicht auf sein Rennboot ein. Vielleicht auch nicht, wenn er erfährt, dass ich mich mit ihm über die unvollständige Patientenakte von Bethany Krall unterhalten möchte.
Als ich hereinkomme, kehrt er
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