Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
Vom Netzwerk:
weigert sich rundweg, in einen Dialog zu treten. Nicht einmal über Wolkenformationen oder Plattentektonik, ein weiteres Lieblingsthema, will sie dann sprechen. Ihre künstlerischen Arbeiten sind beeindruckend. Sie malt an mehreren großformatigen, aufrüttelnden Himmelsbildern und hat soeben eine Serie düsterer Kohlezeichnungen von Stürmen abgeschlossen, die sich über weiten, nichtssagenden Landschaften ausdehnen. Immer häufiger kritzelt sie felsige Oberflächen, aus denen eine senkrechte Linie himmelwärts ragt, bis sie am oberen Rand der Seite ins Nichts verschwindet. Manchmal hat sie Wurzeln im Boden und neigt sich nach links, bevor sie in einem Comic-Knall endet. Ist es eine Pflanze oder eine Maschine? Als ich danach frage, antwortet sie ausweichend: Es sei eine Szene, die nach der EKT »auftauche«. Vielleicht befinde sie sich auf einem anderen Planeten. Ich aber denke an Freud. Ich versuche, ein bisschen mehr über ihren religiösen Hintergrund und ihre Familie zu erfahren. Sie kennt eine Menge Bibelzitate, doch begegnet sie Gott genauso ätzend wie den Ärzten und wiederholt die Frage, die sie schon bei unserer ersten Begegnung gestellt hat: Was hat Gott je für sie getan?
    »Das setzt natürlich voraus, dass Gott existiert«, provoziere ich sie. Worauf sie in Schweigen verfällt. Falls Leonard Krall seine Tochter sexuell missbraucht und ihre Mutter das scheußliche Verbrechen gedeckt hat, wäre ihr Bedürfnis nach Rache verständlich. Ich arbeite geduldig mit ihr und versuche sie behutsam zu einer veränderten Sichtweise zu führen, damit sie irgendwann der quälenden Landschaft des Planeten Bethany entfliehen und an einem erträglicheren Ort leben kann. Noch aber liegt jede derartige Offenbarung in weiter Ferne, und ich bin mir meines Scheiterns bewusst.
    Unser nächstes Treffen findet draußen statt. Noch immer |67| herrscht Windstille, und es ist so drückend heiß, dass ich wie eine Geisha ständig einen kleinen, bunt lackierten Fächer bei mir trage. Der Himmel über uns ist von jenem Hockney-Blau, das an seiner eigenen Intensität zu ersticken droht. Oben sind einige Wolken wie Kreidestaub verstreut, darunter verlaufen dunklere Kondensstreifen. Die Hitze ist rachsüchtig. Rafik folgt uns in einigem Abstand: Ich habe ihn angewiesen, sofort einzuschreiten, falls Bethany mich berührt oder eine plötzliche Bewegung macht. Ich gehe kein Risiko ein. Ich traue ihr nicht über den Weg.
    Vor fünf Jahren gab es noch die guten alten britischen Jahreszeiten. Jetzt nicht mehr. An einer Seite des Gebäudes lodern die hektischen Blätter des wilden Weins, leuchtend wie Fischschuppen. Manche sind schon braun, eingerollt und abgefallen. Aus dem verdorrten Rasen ragt tapfer ein Büschel welker, papierdünner Lilien in Mauve und zartem Orange. In meinem früheren Leben hätte ich solche kranken, todgeweihten Blumen fotografiert und das Bild im Atelier weiterbearbeitet, rasch und zornig, wäre mit Pastellkreiden darauf losgegangen oder mit Tinte, hätte in den zufälligen Spritzern geschwelgt, den emotionalen Schocks, die das Denken über das Gesehene verändern, weil man es auf neue Weise gesehen, umgemodelt und dem eigenen Wesen unterworfen hat. Zum ersten Mal seit Monaten durchzuckt mich der Wunsch nach Kreativität. Warum nicht wieder anfangen? Muss ich mir all das versagen, was mir viel bedeutet hat?
    Ja. Nein. Ja. Ja. Anscheinend schon.
    »Dieser Tornado in Schottland«, setze ich an. »Der Aberdeen getroffen hat   …«
    »Reiner Zufall«, unterbricht sie mich munter. »Nur ein Glückstreffer. Das denken Sie doch, oder?«
    Ich lächle. »Aber ich gebe zu, dass es seltsam ist.«
    Sie gackert, sagt aber nichts. Wir bewegen uns schweigend weiter.
    »Sie hatten also einen Verkehrsunfall«, sagt Bethany unvermittelt. »Ganz schön spektakulär.« Ich bin sprachlos. Von dem |68| Unfall habe ich ihr nichts erzählt. Woher weiß sie, dass es ein Verkehrsunfall war? Und was meint sie mit
spektakulär
? »Ich hätte da eine Frage, nur so aus Neugier. Wie ist es   …«
    »Behindert zu sein?«, ergänze ich, um wieder die Kontrolle zu erlangen und Zeit zu gewinnen. »An den Rollstuhl gefesselt?«
    »Oder sagen wir als Mensch mit besonderen Bedürfnissen?«, erwidert sie fröhlich. Ich habe wohl einen guten Tag erwischt.
    »Gelähmt ist völlig in Ordnung.«
    Sie bleibt stehen und schließt die Augen. »Er ist gefahren, was?«, fragt sie in wissendem Ton.
    Mein Denken setzt aus, startet dann mit einem lauten Knall von

Weitere Kostenlose Bücher