Endzeit
Sie zeigen es immer und immer und immer wieder, weil sie wissen, dass wir niemals genug bekommen, dass es erst dann Realität wird, wenn wir jede Einzelheit aufgenommen und verdaut und verarbeitet und aufs Neue heraufbeschworen haben. Und wie erwartet schwillt das Geschwätz nach dem monumentalen Sturz Christi zu einem internationalen, interkonfessionellen Babel der Meinungen und Gefühle an. Wetterexperten, Bauingenieure, Geophysiker, Steinmetze, religiöse Führer, Psychologen und sogar ein Konzeptkünstler sezieren das Ereignis. Man konstatiert, dass das Material, aus dem die Statue gemacht war, Stahlbeton und Speckstein, selbst hohen Windgeschwindigkeiten hätte widerstehen müssen. Allerdings bemerkt ein Ingenieur, dass ein heftiger Schlag gegen die Basis, was angesichts der ungeheuren Menge von Trümmern, die durch die Luft gewirbelt wurden, nicht ausgeschlossen sei, die Statue womöglich gelockert habe, sodass sie nur noch von ihrem eigenen Gewicht gehalten wurde. »Sehen Sie sich nur an, wo die Statue gestanden hat: Einen ungeschützteren Ort als einen Berggipfel kann man sich kaum vorstellen. Bei dieser Windgeschwindigkeit und in dieser Höhe …« Ein anderer Experte widerspricht ihm: Es sei kein unvermeidlicher Unfall gewesen, sondern das »Zusammentreffen ungewöhnlicher Bedingungen von Wetter und Bauphysik«. Im Internet wimmelt es von Verschwörungstheorien. Der Sturz Christi sei von einer ferngezündeten Mini-Bombe verursacht worden, die Teil eines »jüdischen Komplotts à la 11. September« sei. Nein, es steckten Muslime auf einer hasserfüllten Mission dahinter. Die Rache des |102| Iran. Die widerstreitenden Meinungen und Deutungen ringen um die Oberhand, in einer Atmosphäre der Erregung, die dicht davor ist, in Massenpanik umzuschlagen. Die Statue wurde von einem fliegenden Objekt getroffen. Sie wurde von gar nichts getroffen, die Erosion sei einfach stärker gewesen, als man angenommen habe, die brasilianische Regierung habe davon gewusst, es aber vertuscht. Die Statue habe sich in einem außergewöhnlich guten Zustand befunden. Keine Windgeschwindigkeit dieser Welt hätte solche Schäden an einem Objekt anrichten können, das tausend Tonnen wog. Ein Kleinkind hätte es mit einem einzigen Schubs umstoßen können.
Es ist deprimierend, wie die Debatte über den »Sturz des Erlösers« an Schwung gewinnt und die Folgen des Hurrikans verdrängt. Ein radikalislamischer Geistlicher behauptet, es sei das »Urteil Allahs«, was eine vorhersehbare Kette von Ereignissen in Gang setzt – Empörung, Gegenangriff, Todesdrohungen. Überall in der Welt kommt es zu anti-islamischen Unruhen, auf die die Muslime mit anti-christlichen Demonstrationen und dem Verbrennen von Kreuzen antworten: ein Krieg der Ideologien, ausgelöst durch einen herabfallenden Steinbrocken. Man diskutiert über die Gefahren der Ikonographie, der Religion, der Buchstabengläubigkeit, der Panikmache. Wieder und wieder sehe ich mit Millionen anderer gebannt dem Sturz Christi zu.
Nach einigen Stunden aber schleicht sich allmählich die Vernunft ein, und der Sturz der Statue, bei dem übrigens niemand ums Leben kam, rückt endlich in den breiteren Kontext der Zerstörung, die das Wetter verursacht hat. Als der Hurrikan Stella zwei Tage später seinen Vernichtungsfeldzug beendet, liegen vorsichtige Schätzungen bei viertausend Toten in Rio de Janeiro. Die Luftaufnahmen zeigen Hektar um Hektar zerstörte Vororte, Gewerbegebiete und wuchernde Favelas, die mit Trümmern, Leichen und Schutt übersät sind. Die Hilfsorganisationen bieten alle Kräfte auf, um die Ausbreitung von Seuchen zu verhindern, doch es gibt schon erste Gerüchte über Typhus. Diese Bilder kann ich |103| nicht ertragen. Aber ich weiß, dass Bethany sie anschauen, dabei Kaugummi kauen und das Grauen in sich aufsaugen wird wie eine Sonnenanbeterin die letzten Strahlen.
Als ich Frazer Melville endlich erreiche, versichert er mir, dass Bethanys zutreffende Vorhersage eines Hurrikans an genau diesem Tag im Fachjargon »statistisch unbedeutend« sei. Er erklärt ausführlich, dass die Meteorologie für ihre Ungenauigkeit berüchtigt und vieles einfach nur geraten sei. Es gebe zahllose verrückte Vorhersagen im Internet, die Bethany durchaus gelesen haben könne. Im Nachhinein könne man immer sagen, man habe alles gewusst.
»Es ist, als wollten Sie die Reaktionen eines halbwilden, bockenden Pferdes voraussagen. Kind B. hatte einfach Glück.«
»Falls man es so nennen
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