Endzeit
errichtet hat, ein aus Beton erwachsenes Zeugnis hochfliegender spiritueller Ambitionen, die auf der Erde keine Entsprechung finden.
|99| »Dank der Voraussicht und Fachkenntnis von Heitor da Silva Costa, dem Schöpfer der Statue, hat Christus den Windgeschwindigkeiten von dreihundert Stundenkilometern standgehalten«, bemerkt ein Nachrichtensprecher. »In diesen furchtbaren Zeiten ist der Erlöser mehr denn je ein Symbol der Hoffnung …«
»Gucken Sie mal, Roller, gleich kommt das Allerbeste«, sagt Bethany aufgeregt.
»Was meinst du mit
das Allerbeste
?«, fauche ich wütend. Manchmal fällt es mir wirklich schwer, professionell zu bleiben. Nicht immer schaffe ich es. Was soll’s.
»Pst«, befiehlt sie.
Ich betrachte ihr scharf geschnittenes kleines Profil. Angesichts des aufmerksamen, wachen Blicks, mit dem sie die Ereignisse im Fernsehen betrachtet, könnte man glatt auf die Idee kommen, sie hätte dabei die Hand im Spiel gehabt.
Es folgt eine andere Einstellung. Die Bilder sind verwackelter, live, hoch über der Stadt aufgenommen, gegenüber der Statue. Die Kamera zoomt die weiß gekleidete Christusfigur über dem Wald heran. »Ein Symbol ewigen Friedens«, sagt der Nachrichtensprecher. »Hoch oben auf dem Gipfel des Corcovado, im größten Stadtpark der Welt, verkörpert er den Geist von Rio und die Hoffnungen von hundert Millionen Brasilianern, dass die Zerstörungen, die Stella heute anrichtet, eines Tages …« Die Kamera scheint zu ruckeln, und er zögert, bevor er von einer körperlosen portugiesischen Stimme unterbrochen wird, die schnell und erregt lossprudelt. Abgesehen vom Ruckeln der Kamera ist nichts Beunruhigendes zu sehen. Habe ich etwas verpasst? Neue Stimmen kommen hinzu, man hört mehrere Sprachen, alle reden durcheinander, es herrscht große Verwirrung, als liefen hundert Fernsehsender gleichzeitig. Das Bild flackert und steht wieder, der Zoom fährt weg und wieder heran. Technische Probleme.
Da trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag, mein Herz setzt einen Moment aus und hinterlässt ein Zeitvakuum in meiner Brust. Ich sage in scharfem Ton: »Oh nein, Bethany, nein.« Ich |100| kann sie nicht ansehen, weil ich weiß, dass sie grinst. Ich denke nur,
tu das nicht, Bethany.
Die Christusfigur, die jetzt im Profil zu sehen ist, wankt und neigt sich vornüber.
Schwindel. Dann eine kurze, gähnende Stille.
Es gibt Augenblicke, an die man sich mit absoluter Klarheit bis an sein Lebensende erinnern wird. Sie prägen sich ein und bleiben einem gegenwärtig, ob man will oder nicht. Für den Bruchteil einer Sekunde scheint die Statue in ihrer Entscheidung zu verharren, bevor sie sich nach vorn neigt, hinein in einen langen, halluzinatorisch schönen Todessturz. Die weiße Figur löst sich vom Sockel, fällt kopfüber und unterwirft sich der furchtbaren Anmut der Physik. Ich halte die Luft an. Der opernhafte Charakter dieser Szene ist ungeheuerlich und fesselnd zugleich. Der Nachrichtensprecher verstummt. Man hört nur die tiefe Stille. Dann prallt die Figur zeitlupenlangsam, wie eine Wahnvorstellung oder ein besonders lebhafter Traum, gegen die Bergflanke, hüpft hoch wie ein riesiger Kegel und zerspringt: Zuerst bricht ein Arm ab, dann der andere, dann fällt der Oberkörper in zwei Teile auseinander, die in den dichten Gasabstrich über der Stadt stürzen, eine Mischung aus Rauch, Öl, Regen und Wolken. Die flüssig gewordene Fata Morgana eines Ortes, der gleichzeitig Himmel und …
Mir wird heiß und kalt, als mich die Erkenntnis überkommt.
Bethanys Himmelsspringer.
»Oh nein, bitte nicht«, flüstert eine Männerstimme im Fernsehen. »Nein, nein, nein, nein, nein.« Die Stille zerbricht, alle reden durcheinander, der Schock lässt sie ungläubig, erregt und verzweifelt brabbeln.
Ich gehöre zu einer Generation, die im Fernsehen Statuen, Ikonen und Gebäude hat stürzen sehen: Lenin in Russland, die Berliner Mauer, Saddam in Bagdad, das World Trade Center. Doch sie alle hatten eine Bedeutung für diejenigen, die ihren Sturz verursachten. Was aber bedeutet das hier? Wer ist schuld daran? Was |101| kann man in eine willkürliche Katastrophe, ein völlig unerwartetes Ereignis, in höhere Gewalt hineinlesen?
Nichts. Statt einer noch so grotesken Erklärung gibt es nur Leere.
Ohne ein Wort zu Bethany – ich kann einfach nicht sprechen – drehe ich mich herum und rolle rasch hinaus. Der Ekel sitzt mir wie ein Kloß in der Kehle.
An diesem Abend schalte ich den Fernseher ein.
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