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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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Mein Baby ist tot.
« Das mit dem Baby kann ich nicht ertragen. Ich wende mich ab. Am Himmel hinter den Gitterstäben schweben Popcornwolken.
    »Wir sprechen später darüber. Ich habe jetzt keine Zeit«, sage ich zu Bethany.
    »Klar. Aggressionsbewältigung, was?« Sie grinst und wendet sich wieder dem Fernseher zu, wo vorübergehend andere Nachrichten kommen: Die japanische Börse spielt verrückt, eine Schauspielerin und ehemalige Filmpartnerin von Tom Cruise hat eine Überdosis genommen, die Zahl der Toten im Iran ist auf eine halbe Million gestiegen. Ich rolle aus dem Zimmer, als mir ein ebenso dummer wie brutaler Gedanke kommt. Ich bremse und drehe mich um.
    |97| »Was hast du denn angeblich sonst noch im Voraus gespürt?«
    Sie zuckt mit den Schultern. »Alles Mögliche. Das Erdbeben in Nepal vor zwei Wochen. Ich habe Ihnen davon erzählt.«
    »Tatsächlich?« Bei einer Sitzung im Kunstraum hat sie kürzlich eine ganze Liste von Daten, Orten und Ereignissen heruntergerasselt, während sie ein Diagramm zeichnete, das an einen Liebesakt zwischen Maschinen erinnerte. Ich hatte allerdings mehr auf ihre künstlerische Arbeit als auf das manische Gerede dabei geachtet.
    »Ja. Und Sie haben nicht zugehört«, sagt sie, fängt den Blick eines Krankenpflegers auf und bietet ihm ein Kaugummi an, das er ablehnt. Und ob ich zugehört habe, denke ich abwehrend. Aber selektiv, mit Filter. Nur so kann man einen Sinn in den Aussagen dieser Jugendlichen entdecken.
    »Was sonst noch?«
    »Hören Sie nächstes Mal besser zu«, erwidert sie gähnend. »Es ist ja nicht so, als würde es jetzt einfach aufhören.«
    »Aber das hier – Tausende von Menschen, die getötet oder obdachlos werden, und falls die Stadt getroffen wird   …«
    »Das wird sie.«
    »Werden noch Tausende Leben zerstört   …«
    »Das ist schon in Ordnung«, unterbricht sie mich. »Schon mal von einem
fait accompli
gehört? Egal, warum sorgen Sie sich auf einmal so um diese Südamerikaner? Als wir letztes Mal darüber sprachen, war das noch ganz anders.« Sie schüttelt ungläubig den Kopf. »Es ist wie bei Dr.   Ehmet. Für Sie natürlich
Hassan
. Er ist Türke, oder? Aber wenn ich ihm von dem Erdbeben erzähle, das Istanbul zerstören wird, kommt es mir vor, als ob ich gegen die Wand rede.«
    »Ein Erdbeben in Istanbul?« Mein Magen zieht sich zusammen. Vielleicht muss ich den Filter justieren. Nur als Experiment. »Wie war das doch gleich?«
    »Nächsten Monat. Notieren Sie den 22.   August, Roller. Dagegen ist das hier ein Karussell in Disneyland Paris.
Ay caramba

    |98| Als ich zwei Stunden später zurückkomme, lungert Bethany noch immer in ihrem Sessel herum, ein Bein über der Armlehne, Kaugummi im Mund und im Fernsehen der Hurrikan Stella, der als brodelnde Masse aus Wasser, Dampf und Trümmern durch Rio tobt.
    »Hi!«, begrüßt mich Bethany mit einem Winken. »Kommen Sie her.« Ich manövriere mich neben sie. Im Fernsehen schwärmen Hubschrauber wie Mücken am Rand des Sturmes und senden Bilder aus dem Katastrophengebiet: reißende, mit Schmutz und Leichen angefüllte Flüsse, die sich in Täler ergießen und Ebenen überschwemmen; Hilfskonvois, die von aufgetürmten Trümmern blockiert werden; draußen auf dem Meer schimmernde Schlieren, das Öl zerschmetterter Tanker. Während Stella sich über Rio verausgabt, taucht unter dem Fleisch der Metropole eine tiefer gelegene Stadt auf, verzerrt und verwüstet, eine an Hieronymus Bosch gemahnende Landschaft aus flüssigen Straßen, geborstenen Hütten und unkenntlichen Bruchstücken, die vielleicht einmal zu Spielplätzen, Schulen, Kneipen, Krankenhäusern, Bordellen und Häusern gehört haben, in denen Kinder miteinander stritten und Erwachsene einander liebten und Reis kochten und Babys zur Welt brachten: die Gezeiten des einfachen, frustrierenden, schwierigen, normalen, vom Kummer gezeichneten und von Leidenschaft getriebenen menschlichen Lebens. Eine grelle Sonne hängt schief über Rio, küsst die Stadt brutal und stellt Tag und Nacht auf den Kopf. Die weiße Statue von Christus dem Erlöser ragt hoch oben auf dem Berg empor, die Arme weit über Land, Meer und Himmel ausgebreitet, darunter die Stadt unter der Decke aus tosenden Wolken. Es ist absurd, aber zum ersten Mal fällt mir auf, dass die Statue selbst ein gigantisches Kreuz bildet. Ihre schiere Größe ist furchtbar und ergreifend zugleich, als wären ihre Weite und Erhabenheit umgekehrt proportional zu der Volkswirtschaft, die sie

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