Endzeit
kann. Aber was war mit Ihrem Anruf? Sie hörten sich so aufgeregt an.«
»Zufälle sind eben aufregend. So aufregend, dass ich einfach jemanden zu dieser unchristlichen Zeit wecken musste. Sie anzurufen lag nahe. Dafür entschuldige ich mich noch einmal.«
»Tausend zu eins, haben Sie gesagt«, beharre ich. »Ist das auch statistisch unbedeutend?«
Er bleibt gelassen. »Die gute Nachricht ist, dass ich Ihnen ein Essen schulde.«
Drei Tage später sitze ich abends in der »Brasserie des Arts« und habe eine Mappe dabei, in der sich die Zeichnung von Bethanys Himmelsspringer befindet, die ich von der Wand des Kunstraums gerissen habe. Allein im Restaurant zu essen, finde ich nur unwesentlich schlimmer als Fertigmahlzeiten aus der Mikrowelle oder Bestellungen beim Pizzataxi. Inzwischen kenne ich das Personal der Brasserie jedoch gut genug, um meinen Lieblingstisch zu bekommen und vom Geschäftsführer begrüßt zu werden. Er lächelt mir ermutigend zu, als er erfährt, dass ich ausnahmsweise andere Gesellschaft als
Psychiatry Today
haben werde.
Als Frazer Melville eintrifft, küsst er mich auf beide Wangen |104| und entschuldigt sich für die Verspätung von siebeneinhalb Minuten.
»Wie ist noch mal die statistische Wahrscheinlichkeit, dass so was passiert?«
»Dass ich zu spät komme? Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering.« Hinter seiner fröhlichen Art verbirgt sich eine Spur von Nervosität.
»Ich meine den Hurrikan.«
»Ich sagte tausend zu eins. Eigentlich war es aber eher tausend zu drei.«
»Also schulden Sie mir zwei weitere Abendessen.« Während er sich aus seiner Jacke schält, hole ich Bethanys Zeichnung hervor und lege sie auf den Tisch. »Könnten Sie das hier bitte in Ihre Berechnungen einbeziehen? Das hat sie mir eine Woche vor dem Sturz der Christusfigur gezeigt.«
Ich habe das Datum unten auf der Seite vermerkt und sehe zu, wie sich Frazer Melville in das Bild vertieft. Seine Augen wandern von oben nach unten, wie bei einem chinesischen Text. Er mustert es dreimal, bevor er sich äußert.
»Bemerkenswert«, sagt er schließlich. Mehr nicht.
»Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob es sich um reinen Zufall handelt«, sage ich. »Sie wird behaupten, sie habe es vorhergesagt. Und dass sie auch noch andere Dinge gesehen hat. In Nepal gab es ein Erdbeben, von dem sie mir angeblich auch im Voraus erzählt hat.«
»Und, hat sie das?«
»Kann schon sein. Ich habe damals auf andere Dinge geachtet. Als ich aber den Christus in Rio fallen sah, war die Verbindung zu diesem Bild ganz offensichtlich.« Er sagt nichts. Seine Augen huschen noch einmal über die Zeichnung. Wir bestellen, dann herrscht Schweigen. Frazer Melville wirft immer wieder einen Blick auf Bethanys Zeichnung, die am Salzstreuer lehnt. Ich merke, dass sie ihm keine Ruhe lässt.
»Wenn ich darf, würde ich mir gern ihre Notizbücher anschauen«, |105| sagt er schließlich. »Rein interessehalber. Überprüfen, was sie in ihren sogenannten Visionen gesehen hat und ob sie mit irgendetwas übereinstimmen.«
»Das verstößt gegen die Patientenrechte; ich würde meinen Job verlieren.«
»Nur wenn es herauskäme«, erwidert er sachlich. »Aber das muss es ja nicht.«
Wut durchzuckt mich. Macht er es sich nicht zu einfach? Logistisch wäre es kein Problem, vor allem nicht für jemanden, der in seinem Rollstuhl bereits ein illegales Donnerei und eine noch illegalere Spraydose aufbewahrt. Aber es gibt auch einen moralischen Aspekt.
»Schon mal von dem Begriff ›Menschenrechte‹ gehört?«
»Hätte sie etwas dagegen?«
»Sie würde sich freuen wie ein Schneekönig. Aber Ihre Reaktion macht mich neugierig. Einerseits sagt der Wissenschaftler in Ihnen, es sei nur Zufall, wenn auch ein
aufregender
Zufall, andererseits …«
»Der Wissenschaftler würde gern erfahren, ob es weitere Zufälle gibt. Das ist nicht weiter ungewöhnlich.«
»Wie viele müssten es sein, damit Sie Ihre Meinung ändern und nicht mehr an Zufälle glauben? Wie viele korrekte Prophezeiungen müsste dieses Mädchen machen, bevor es mehr als nur ›bemerkenswert‹ wäre? Noch eine? Oder zwei? Ich meine, wenn sie mit Nepal recht hatte, was ich überprüfen kann …«
Doch Frazer Melville schüttelt entschieden den Kopf. »Von meinem Standpunkt aus, dem Standpunkt eines jeden Wissenschaftlers, lautet die Antwort: mehr, als sie je machen kann.«
»Warum wollen Sie sich die Notizbücher dann überhaupt ansehen?«
»Aus demselben Grund, aus dem ich
Weitere Kostenlose Bücher