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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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wollte ich von Anfang an zwei Dinge«, sage ich schnell, um es hinter mich zu bringen. »Ich wollte wieder arbeiten, und zwar so bald wie möglich. Und ich wollte laufen.« Er nickt wieder und wendet sich ab. Vermutlich glaubt er, dass ich seine Tränen nicht sehen will, was auch stimmt, dass ich ihn deswegen geringschätzen, vielleicht sogar bis aufs Blut hassen könnte.
    »Wer würde das nicht?«, murmelt er. Er sollte sehr vorsichtig sein. Begreift er nicht, dass ich ihm mit meinem Donnerei den Schädel einschlage, wenn er mich bemitleidet?
    »An diesem Punkt lud mich meine nette, wohlmeinende Therapeutin ein, ›das Netz zu entwirren‹ und das ›Realistische‹ vom ›Unrealistischen‹ zu trennen«, fahre ich fort. Augen zu und durch. Ich trinke einen großen Schluck Wein. »Bewusstmachen, aufarbeiten, bewältigen, akzeptieren. Irgendwann hasst man den Jargon, wenn man ihn nicht selbst verwendet. Im Grunde hasst man ihn auch dann. Ich musste psychologische Fragebogen ausfüllen, |134| wie ich sie zu Beginn meiner Laufbahn selbst entworfen habe.«
    »War es demütigend?«, fragt er und kneift die Augen halb zu. In der Reha haben sie uns vor Leuten gewarnt, die uns helfen wollen, die sich auf uns stürzen, weil wir bedürftig sind, und uns retten wollen. Perverse, die auf Krüppel stehen. Wenn es ihm darum geht, kann er sich verziehen.
    »Anfangs schon. Aber dann wurde es interessant. Es kann ziemlich hilfreich sein, die Wirklichkeit zu verdrängen. Ich wurde blind, schroff und entschlossen. Ich zwang mich dazu. Mir wurde klar, dass ich etwas bewirken konnte, wenn ich mich in eine Art selbstgerechten Zorn versetzte. Ich predigte mir, das Leben müsse weitergehen. Und ich würde neu beginnen, schneller als alle anderen, besser als alle anderen und vor allem an einem neuen Ort. Ich wollte nicht vor dem Hintergrund meiner Vergangenheit beurteilt werden. Ich wollte unter Fremden sein, die mich nie als gehenden Menschen gekannt hatten. Ich wollte ihnen meinen Zustand als vollendete Tatsache präsentieren. Ich wollte sagen, hier bin ich und
das
bin ich, scheiß drauf.«
    Der Physiker lächelt. »Ich weiß. Es ist auch einer der Gründe   …« Er hält inne. »Sie sind cleverer als ich, Gabrielle, und haben eine gemeine Ader. Also aufgepasst. Sie werden sich nicht über mich lustig machen und mich wie einen Idioten dastehen lassen.«
    »Sagen Sie jetzt bitte nicht, dass Sie meinen Mut bewundern.«
    »Das hatte ich nicht vor.« Er steht auf und schiebt den Stuhl weg. »Legen Sie die Arme um meinen Hals«, sagt er und beugt sich vor. Ich strecke sie ihm entgegen. Der Physiker hat eine breite Brust, warm wie Brot, das frisch aus dem Ofen kommt. Ich spüre, wie sein Herz schlägt. Also kann er meins auch fühlen. »Halten Sie sich fest.« Er drückt meinen ganzen Oberkörper an sich. »Ich wollte sagen   …« Er hebt mich aus dem Stuhl und lehnt mich an sich, seinen Arm unter meinen Kniekehlen. Er ist groß, und ich bin klein, aber ich komme mir trotzdem vor wie ein Kartoffelsack. Er aber trägt mein Gewicht, als wäre es gar nichts. Dann ist |135| sein Gesicht ganz nah an meinem, und er wiegt uns beide hin und her. Eine Weile bleiben wir so und schaukeln zusammen in der warmen Abendluft. Der Himmel ist dunkel geworden, der Mond als blasse Sichel aufgegangen. Es ist absurd. Es ist romantisch. Es ist lächerlich. Ich finde es wunderbar und könnte sterben, aber nicht so, wie ich normalerweise sterben möchte. »Also, ich wollte sagen, es ist einer der Gründe, aus denen ich das tun möchte.«
    »Was, Gewichtheben?« Warum kann ich nicht damit aufhören?
    »Wenn Sie es kaputt machen, lasse ich Sie fallen. Halten Sie den Mund und hören Sie mir zu, ich werde nämlich gerade romantisch.« Ja, das glaube ich auch. Und wie. Und ich kann nicht damit umgehen. Es bringt mich um. Es zerstört den Glauben, ich sei keine Frau mehr. Schlimmer noch, es weckt die Hoffnung, dass ich doch noch eine Frau bin, und vernichtet sie wieder. Ich schließe die Augen. »Es ist einer der Gründe, aus denen ich dich in meinen Armen halten möchte«, sagt der Physiker, »und dich dann küssen.«
    »Hat es dir gefallen?«, fragt er, als wir uns schließlich voneinander lösen. Es war spektakulär. Ich fühle mich wie ein trockener Alkoholiker, der wieder zur Flasche greift. Ich hatte vergessen, wie Küssen sich anfühlt, was es in einem bewirkt. Aber mein Körper, oder das, was von ihm übrig ist, hat es nicht vergessen. Er befindet sich in einem

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