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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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dass ich etwas ganz Entscheidendes verschweige. Als hätte Bethany ihm   …
    Was gesagt?
    »Alex war eigentlich gar nicht mein Typ«, fahre ich rasch fort, da ich mich nicht von der Paranoia überwältigen lassen will. »Er war Geschäftsmann, hatte eine Kette von Modegeschäften. Wir lernten uns in einem Kasino kennen, an dem er einen Anteil besaß. Er war ein leidenschaftlicher Pokerspieler. Meine Freundin Lily schleppte mich eines Abends hin, weil sie gerade zwischen zwei Ehen war und auf einen Croupier stand, der dort arbeitete. Na ja. Es kam, wie es kommen musste. Wir machen alle Fehler. Wo gehobelt wird, fallen Späne«, sage ich kraftlos und bin entsetzt über meine Plattitüden. Warum kann ich nicht einfach die Wahrheit sagen? Weil ich es nicht kann. Ich kenne die nächste Frage, auch wenn sie nicht laut ausgesprochen wird. Um es hinter mich zu bringen, beantworte ich sie dennoch.
    »Er ist gefahren. Das Wetter war schrecklich. Ich kann mich nicht erinnern, wie es passiert ist. Aber wir haben uns gestritten.« Es ist eine Mischung aus Lüge und Wahrheit, Tatsachen und Wunschdenken. Ich habe die Geschichte in meinem Kopf schon tausendmal überarbeitet. »Wir wollten zusammenleben, aber er konnte – er konnte sich einfach nicht dazu durchringen, das Nötige zu tun.«
Er hatte ein Bindungsproblem.
Wie sehr ich diese Phrase hasse, mit der Frauen erklären wollen, weshalb ein Mann sie nicht heiraten will. Die Phrase, die so viel heißt wie:
Es liegt nicht an mir, sondern an ihm.
Und noch eine Phrase aus Frauenzeitschriften:
Er wollte alles zugleich haben.
    »Ich habe ihn geliebt. Doch in dieser Situation habe ich ihn auch gehasst, das war unvermeidlich.«
    Den Rest erkläre ich nicht. Wie unmöglich alles war und weshalb ich Alex angeschrien habe, als er um die Ecke bog, und warum |130| ich noch immer auf ihn einschrie – gemein, unbeherrscht, wie eine Besessene   –, als er die Kurve falsch einschätzte. Wie langsam und still er starb.
    Ich sage es ihm nicht, weil ich es mir selbst nicht sage. Ich habe genug durchgemacht.
    »Früher habe ich die ganze Zeit daran gedacht.« Die Wahrheit.
    »Und jetzt?«
    »Jetzt nur noch einmal pro Woche.« Eine Lüge. Ich denke jeden Tag an ihn. Jeden verfluchten Tag.
    »Wurden Sie dadurch, hm, verbittert? Ich meine, Sie hatten nicht nur ihn verloren, sondern auch Ihr   – Sie waren schwer verletzt.« Der Physiker schaut mich seltsam an, als wüsste er, was ich nicht ausgesprochen habe. Wie kann ich diese eine Sache in Worte kleiden, über die ich nicht nachdenken, der ich mich nicht stellen kann, der ich mich niemals stellen werde? Wie soll ich das jemals einem Menschen erzählen?
    Um uns beide abzulenken, berichte ich schließlich, was nach dem Unfall geschah. Berichte von dem Monat, den ich im Koma verloren habe, und wie ich mehr oder weniger zu Bewusstsein kam und feststellen musste, dass ich in einem verstellbaren Bett lag, das dreimal am Tag wie ein Bratspieß gekippt wurde. Das Morphium löste außergewöhnliche halluzinatorische Träume aus. Ich war ein Bergsteiger, der eine kilometerhohe weiße Klippe erkletterte, eingeschnürt in ein Dickicht aus Flaschenzügen und Seilen. Ich war der Kommandant eines winzigen Hochgeschwindigkeits- U-Bootes , der wie ein irrer Konquistador durch ein watteweiches Meer sauste, zwischen Abgründen und Haien und Strudeln und Riesenoktopussen hindurch. Surrealerweise sah ich bisweilen Leute in Krankenhauskitteln aufrecht stehend gespensterähnlich durch den Raum gleiten. Später erfuhr ich, dass es Patienten in Stehrollstühlen waren. Die Medikamente sorgten dafür, dass die meisten Erklärungen einfach an mir vorbeirauschten. »Sobald Sie bereit für die Physiotherapie sind, legen wir Sie auf einen Kipptisch, damit Ihr Herz besser arbeiten kann«, sagten sie eines |131| Tages. Ein medizinisches Baugerüst, um die Muskeln in meinem zerbrochenen Körper zum Leben zu erwecken. Konnte mein Herz wirklich noch härter arbeiten? Anscheinend schon, und das musste es auch, denn eines Tages besuchte mich eine völlig zerstörte Frau. Sie blieb lange neben mir stehen und sagte kein Wort. Ich wusste, wer sie war. Ich hatte Fotos von ihr gesehen. Sie betrachtete mich wie die Vertreterin einer besonders erbärmlichen und ekelerregenden Spezies, wandte sich ab und ging. Sie hätte mich töten können, aber sie tat es nicht. Sie sah, dass es nicht nötig war. Dass es grausamer wäre, mich leben zu lassen, weil ich mir Strafe genug war. Sie war

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