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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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Soziologin und hätte vielleicht eine Kategorie benennen können, in die man eine Frau ohne Mann, ohne Baby, ohne Gefühl unterhalb der Gürtellinie und ohne denkbare Zukunft einordnen konnte. Ich habe sie nie wieder gesehen. Das Morphium ließ die Begegnung unwirklich erscheinen, wie einen Traum ohne Anfang und Ende. Allmählich aber bildete sich eine Routine heraus. Ich begann, selektiv zu vergessen und mich zu erinnern. Man kann nur ein gewisses Maß an Schmerz ertragen. Sechs Wochen lang wurde ich jeden Tag dreimal in einen neuen Winkel gekippt, um meine zerschmetterte Wirbelsäule und das Becken zu entlasten.
    »Seltsam, aber ich war schon mindestens zehn Tage auf dieser Station, bevor ich merkte, dass ich nicht allein war. Ich hatte geglaubt, es gäbe die anderen Stimmen nur in meinem Kopf. Wie sich herausstellte, waren wir zu zehnt. Neun andere zerbrochene Menschen, festgezurrt in ihren Betten, die in verschiedenen Winkeln geneigt waren. Oder stehend angeschnallt. Ich war die einzige Frau.«
    Die anderen waren ziemlich jung: drei Motorradfahrer, ein Bauarbeiter, der von der Leiter gestürzt war, ein Mann, der bei einem Selbstmordversuch aus dem vierten Stock gesprungen war. Ein Junge – er sagte, er sei erst sechzehn – sprach mit ganz merkwürdiger Stimme: krächzend und begleitet von lauten Atemzügen, als kostete es ihn ungeheure Mühe. Später erfuhr ich, dass |132| es ihn am schlimmsten getroffen hatte. Er war vom Hals abwärts gelähmt und wurde beatmet. Das keuchende Geräusch, das man beim Sprechen hörte, stammte von der Maschine.
    »Die Leute kamen und gingen. Der Selbstmörder starb eines Nachts, sein Wunsch hatte sich erfüllt.«
    Wir standen alle unter starken Medikamenten, also wurde nicht viel geredet. Dafür aber geträumt. »Ich bin in diesem Bett, in meinem Kopf, endlos herumgereist. Ich reiste zum Mond. Darüber hinaus. Es war seltsam befreiend, nur ein Gehirn zu sein, das frei im Raum schwebte. Damals kannte ich keine Panik, weil man mir nicht gesagt hatte, dass ich nie wieder laufen würde.«
    »Um Sie zu schonen?«
    »Nein, darum ging es nicht. Keiner wusste es. Ich hatte einen spinalen Schock erlitten. Der Körper macht einfach dicht. Es kann Monate dauern, bevor man begreift, was los ist. Ich erhielt Medikamente und war ruhig. Da merkte ich zum ersten Mal, wie ich in mir selbst verschwinden konnte. Wie ich die Zeit komprimieren und ausdehnen konnte.«
    Er wirkt fasziniert, verwirrt, ein bisschen erregt. Auch entsetzt angesichts der Höllenvision, die ich gezeichnet habe. Ich frage mich, wie viel er begreift. Kann jemand, der es nicht selbst erlebt hat, überhaupt begreifen, wie es ist, ganze Stunden in Sekunden vorbeirasen zu sehen oder Sekunden in die Ewigkeit zu dehnen? Lange und aufwendige Phantasiereisen zu unternehmen, auf denen man ein ganz neuer Mensch wird? Begreifen, dass es nichts gibt, das man nicht tun kann, dass es niemanden gibt, der man nicht sein kann, wenn man seinen Geist einfach frei schweben lässt? Ich erzähle dem Physiker, dass ich gegen Ende jener Phase das Schlimmste erfuhr und was es für meine Zukunft bedeutete. Ich erzähle ihm nicht, dass ich in jenen Wochen die Entscheidung traf, Alex und alles, was zu ihm gehörte – die Frau, die Kinder, den ungeheuren Schmerz der Familie – aus meinem Denken zu löschen. Es gibt Grenzen dessen, was ein Mensch ertragen kann. Auf meinem Folterbett entfaltete sich etwas in mir, eine neue |133| Fähigkeit erblühte wie eine Blume. Ich durchlebte mein ganzes Leben noch einmal, manchmal bis in die kleinste Kleinigkeit, phantasierte aber auch Leben, die vergangen waren, oder Leben, die es hätte geben können.
    Der Blick des Physikers ist so offen, dass ich es nicht ertragen kann. Das Mitleid anderer ist unerträglich. Genau wie das Mitgefühl. Und die moralische Missbilligung. Ich schaue weg.
    Ich habe ihm nicht erzählt, dass ich mir auf jenen langen inneren Reisen meist einen Jungen mit blauen Augen und braunem Haar vorstellte, der Max hieß. Zuerst sah ich ihn als Baby, dann wurde er größer. Als er winzig klein war, gab ich ihm Stifte zum Malen und Ton zum Matschen. Später zeigte ich ihm das Werk von Malern und Bildhauern; brachte ihm bei, wie man Eier brät; sah ihm zu, wie er mit seiner Taucherausrüstung kämpfte, und hörte mir die Geschichte seiner ersten Liebe an.
    Der Physiker hat meine Hand genommen und streichelt sie. Er schaut mir so eindringlich in die Augen, dass ich einfach drauflosschwätze.
    »Danach

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