Endzeit
Chaos der Begierde und weiß nicht, wie er sie stillen soll.
»Frazer Melville.« Es ist, als wäre sein Name in mir gefangen gewesen, und der Kuss hätte ihn befreit. Er setzt mich aufs Sofa und hält mich noch immer umarmt. »Frazer Melville, Frazer Melville, Frazer Melville.« Er erinnert mich an mein spanisches Mantra, rollt wie ein fremder Geschmack über meine Zunge, ein Geschmack, nach dem ich süchtig werden könnte. Ich will mehr. Von seinem Namen, von allem, von ihm.
Er weicht zurück und sieht mich an. »Beantworte meine Frage.« Er klingt stolz, aber über seiner Nase ist eine winzige Sorgenfalte erschienen. »Hat es dir gefallen?«
|136| Wenn kein männliches Wesen mit Ausnahme von medizinischem Personal einen seit zwei Jahren intim berührt hat …
Das Gefühl eines anderen Körpers. Der Druck der Lippen. Es ist zu viel für mich. Ich bin hinüber.
»Na ja«, sage ich und will cool klingen, was mir aber nicht gelingt. »Eigentlich sollte ich die Psyche anderer Menschen durchschauen. Eine Ahnung haben von Körpersprache und menschlichen Trieben. Das ist die grundlegende Voraussetzung für meinen Beruf.«
»Will heißen?«
»Falls du Signale ausgesandt hast, sind sie mir entgangen.«
»Von deinem beruflichen Versagen einmal abgesehen, lautete meine Frage: Hat es dir gefallen?«
»Nein, ich fand es schrecklich«, sage ich. Ich spüre die Muskeln um meinen Mund. Sie machen etwas, an das sie nicht gewöhnt sind. Natürlich lächle ich bisweilen. Aber nicht so. Das hier ist das irre Bananengrinsen von der Geburtstagskarte meines Neffen. Nein, ich habe seine Signale nicht aufgefangen. Nicht richtig. Er aber meine, die ich unterschwellig ausgesandt habe. Na gut. Da war die Sache mit dem Ausschnitt, dem Make-up, dem Parfum, den grünen Pumps, schon klar. Aber. »Aber um ganz sicherzugehen, könnten wir es ruhig ein paarmal wiederholen«, sage ich gelassen und ziehe eine Haarsträhne über meine kahle Stelle. »Danach werde ich dir meine endgültige Einschätzung mitteilen.«
In der Reha habe ich ein Handbuch über Lähmung und Sexualität mit dem Titel
Sexbewegt
gelesen. Ein guter Titel, der sich selbst erklärt. In
Sexbewegt
wird empfohlen, es langsam angehen zu lassen. Man solle seinem Partner erklären, welche Dinge beim Sex zu beachten sind, falls er es noch nicht weiß. Was schiefgehen kann, welche Positionen vorteilhaft sind, zu welch peinlichen Zwischenfällen es kommen kann. Scheiß drauf. Scheiß drauf, es langsam angehen zu lassen. Trotz der bandagierten Wunde an meinem Oberschenkel und der Tatsache, dass ich damit besonders vorsichtig sein muss, trotz der kahlen Stelle am Kopf will ich |137| wissen, wie es ist. Sofort. Mit dem Physiker. Mit dem Physiker Frazer Melville. Ob er bereit ist oder nicht.
»Küss mich noch einmal, Frazer Melville«, sage ich. »Und dann geh mit mir ins Bett.«
Als ich später neben ihm einschlafe, während der Ventilator die heiße Nachtluft über unsere Haut pustet, habe ich etwas Wichtiges erfahren. Ich bin immer noch eine Frau, deren Körper Lust empfinden kann. Eine Frau, die die Vertrautheit, Zärtlichkeit und Intensität des Sex mehr vermisst hat, als sie sich jemals eingestehen wollte. Und selbst wenn ihr Unterkörper keinen Orgasmus zustande bringt, gilt dies nicht für ihre Brustwarzen und ihr Gehirn.
|138| 6
Bei der Isolation gibt es ein Problem, denn was für den einen Patienten die Hölle ist, findet ein anderer richtig kuschelig. Bethany Krall, der bodenlose Abgrund, genießt geradezu die Aufmerksamkeit, die sie in dem von Altersgenossen freien Bereich erhält. Der Therapeutenkontakt wurde nach dem Angriff auf Newton auf fünf Stunden täglich erhöht, und sie wird rund um die Uhr von einer Krankenschwester überwacht, um Selbstverletzungen zu verhindern. Sie erhält ihr Essen auf einem Tablett, was sie Zimmerservice nennt; auch dies kommt ihrer derzeitigen narzisstischen Stimmung entgegen. Wenn sie auf die Toilette muss, wird sie von Lola oder einer anderen Krankenschwester begleitet, die sie ganze Zeit im Auge behält. Von Lola weiß ich, dass Bethany das weidlich ausnutzt und laufend skatologische Kommentare abgibt. Wir sprechen über den Schaden, den sie dem Jungen zugefügt hat, doch sie zeigt keine Reue. Stattdessen ist sie geradezu begierig darauf, alle blutigen Einzelheiten zu erfahren. Vor allem, welchen Teil des Globus der Chirurg in Newtons Hodensack gefunden hat, als er den unwiderruflich zerstörten Hoden entfernte.
»Ich wette, es
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