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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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war Skandinavien. Sie wissen schon, Norwegen, Finnland, Schweden und Dänemark.« Immerhin scheint sie mithilfe des Atlas, den sie mitgebracht hat, ihr geographisches Wissen zu erweitern.
    »Wenn du lange genug hier drinnen bleibst, wird aus dir noch Bethany Krall, Professorin für Erdwissenschaften«, prophezeie ich. Sie stößt ein schmutziges, kehliges Lachen aus, das zu alt für sie klingt. Die Zahnspange blitzt im Licht. Seit Bethany in die |139| kahle Zelle im McGrath-Flügel gebracht wurde, in der wir uns nun mit Rafik befinden, ist sie richtig fröhlich geworden. Aber es ist nicht die Fröhlichkeit, die man von einem ausgeglichenen Mitglied der Gesellschaft erwarten würde.
    »Ich wüsste gern, ob dich der Zwischenfall an etwas erinnert, das vor zwei Jahren bei dir zu Hause passiert ist.«
    Sie lächelt gönnerhaft. »Wieder die falsche Frage, Roller. Sie sind nicht gerade schnell von Begriff. Bis Sie kapieren, was hier läuft, sind Sie mit Ihrem Spastimobil zehn Meter unter Wasser. Blabla mit Blasen. Hey, war bloß ein Witz.« Na schön, denke ich. Heute kann mich nichts runterziehen. Ich lächle die kleine Bethany Krall gütig an, weil ich es mir leisten kann.
    Ich bin eine Frau, die Sex hatte.
    Nach dem Angriff auf Newton könnte ich intensivere Sitzungen mit Bethany beantragen. Unsere Routine wieder aufzunehmen, würde jedoch
dem Protokoll widersprechen
, wie es im hiesigen Bürokratenjargon heißt. Außerdem bin ich nicht sonderlich scharf darauf, mich von Sheldon-Gray verhören zu lassen, der mich bei unserer letzten Besprechung vom Rudergerät aus nur so mit Fragen bombardiert hat.
    »Wie geht es Newton? Uuh. Sind Sie sicher, dass Sie genügend Unterstützung für diese Aufgabe haben? Aah. Hat Ihr Selbstvertrauen gelitten? Uuhgk. Haben Sie Ihre Aussage bei der Polizei gemacht? Brauchen Sie vielleicht ein bisschen Abstand, nachdem der Papierkram erledigt ist?«
    Ich bemühe mich, zusammenhängend und überzeugend zu antworten, während er vor- und zurücksaust und verschwitzte Luft von einer Seite des Raums zur anderen schaufelt, als wäre dies eine Aufgabe, die er später auf einer Liste abhaken kann: x Gasmoleküle von A nach B transportiert. Ich halte mich an mein Vorhaben, die Sache knapp zu halten. Die Digitaluhr an seinem Gerät zeigt an, dass unser Gespräch eine Minute und achtundvierzig Sekunden gedauert hat. Zu guter Letzt halte ich ihm Bethanys Zeichnung mit dem Strichmännchen hin.
    |140| Er zieht die Augenbrauen hoch. »Gute Arbeit. Bleiben Sie dran.«
    Das versichere ich ihm und verlasse den Raum.
    »Du hast dieses Strichmännchen mit rotem Stift gezeichnet«, sage ich jetzt zu Bethany. »Ich vermute, es ist deine Mutter. Was hast du dir gedacht, als du sie gezeichnet hast?«
    »Ich mache keine Strichmännchen«, erwidert sie mürrisch. Ich nehme das Blatt aus der Mappe und lege es ihr hin. Sie blinzelt, runzelt die Stirn und schiebt die Zeichnung verblüfft von sich. »Die ist nicht von mir. Die muss jemand anders gemacht haben. Jemand, der ganz beschissen zeichnet.«
    »Aber ich war dabei. Nach dem Sturz Christi hast du sie gemacht.«
    »So zeichne ich nicht. Das ist ein Kinderbild.«
    »Ich frage mich, was dieses Kind beim Zeichnen gedacht hat.«
    Wir schauen einander einen Moment an, und dann wendet sie sich ab.
    In den labyrinthischen Diskussionen mit meiner Analytikerin dämmerte mir irgendwann, dass die meisten Frauen ein idealisiertes Mutterbild im Kopf haben. Eine Mutter, die Kuchen backt, perfekte Bratensauce kocht, am Schultor wartet, mit der man Lippenstift und T-Shirts tauschen, der man sich anvertrauen und mit der man über eine Comedyshow im Fernsehen lachen kann. Ein Gegengewicht zu der Mutter, die sie im wirklichen Leben haben, in Bethanys Fall einer Mutter, die in ihrer Tochter einen so starken Drang zum Töten geweckt hat, dass sie zu einem Schraubenzieher griff und Geschichte schrieb.
    »Sie kapieren es einfach nicht«, murmelt sie. »Das Erdbeben ist fast da. Übermorgen trifft es Istanbul. Ich spüre, wie sich der Druck in der Bruchlinie aufbaut. Hören Sie doch auf mich. Ich hatte recht mit dem Hurrikan. Ich hatte recht, dass Jesus den Berg hinunterstürzt. Was ist, wenn ich auch diesmal recht habe?«
    »Was erwartest du von mir, Bethany? Nur mal angenommen, du hättest recht?«
    |141| »Es wird einfach Zeit, dass mir jemand glaubt. Kapieren Sie das denn nicht?«
    Unsere Zeit ist vorbei; auf mein Zeichen hin öffnet Rafik die Tür. Als ich mich umdrehen will, schaut

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