Endzeit
echte Leben wiederaufnehmen. Doch wenn man als Skeptiker einschläft und von Nachrichten geweckt wird, die einen zum Gläubigen machen, ist die Erfahrung so umwälzend, als würde man ein neues Skelett erhalten. Man kann es einfach nicht ignorieren. Mit einem Streichholz zünde ich die Lampe neben dem Bett an, einen marokkanischen Metallkäfig, der senkrechte Lichtstrahlen durch den Raum tanzen |146| lässt. Das Gewitter hat sich verzogen, der Regen ist noch unschlüssig.
»Egal, wem wir es gesagt hätten, sie hätten uns ohnehin nicht geglaubt«, murmele ich. Wir liegen schon eine Weile so da. Es ist der einzige Gedanke, an den ich mich klammern kann. Ich gebe mich rational, doch was ist mit Frazer Melville? Sein Atem klingt so beherrscht. Vielleicht kämpft er gegen etwas an. Tränen? Einen Herzanfall? Das kommt bei Männern vor. Sie sterben beim Sex oder an einem Schock. Oder an beidem.
»Weißt du noch, unser Gespräch gestern«, sage ich und stütze mich ungeschickt auf einen Ellbogen, damit ich ihm in die Augen sehen und seine Stimmung einschätzen kann. »Wir haben mehrmals darüber gesprochen. Leichthin, aber trotzdem. Und wir waren uns einig. Wenn wir die türkische Botschaft angerufen und gesagt hätten, dass sie eine Stadt mit fünfzehn Millionen Einwohnern am 22. dieses Monats evakuieren müssten, weil ein Kind in einer Hochsicherheitsklinik eine Vision hatte …«
Ich kann nicht weitersprechen. Meine plötzliche Überzeugung hat sich in Luft aufgelöst. Ich lasse mich wieder aufs Kissen sinken. Frazer Melville sagt nichts.
Um halb vier kommt eine aktualisierte Meldung. Die Berichte über das Ausmaß der Zerstörung sind widersprüchlich, aber das Erdbeben, dessen Epizentrum sich im Marmara-Meer unmittelbar vor der Stadt befand, hatte eine Stärke von 7,7 auf der Richterskala. Es ereignete sich vierzehn Minuten vor ein Uhr Ortszeit und löste einen kleinen Tsunami aus, der den Südteil des Ballungsgebietes überschwemmte. Ersten Schätzungen zufolge sind etwa vierzig Prozent der Stadt betroffen. Mindestens zehntausend Gebäude sind zerstört, darunter die berühmte Blaue Moschee. Wolkenkratzer, Wohnhäuser, Bürogebäude und Schulen sind eingestürzt. Ich stelle mir Bauklötze und eine Dunstglocke aus Zementstaub vor. Es dämmert noch nicht, sodass die Sicht bei null liegt. Das Risiko von Nachbeben ist hoch. Die ersten Schätzungen gehen von Zehntausenden Toten, Verletzten und Verschütteten |147| aus. Wie viele Ärzte werden in den nächsten Tagen Menschen, die aus den Trümmern geborgen wurden, fragen, ob sie unterhalb der Taille irgendetwas spüren? Oder unterhalb des Halses?
Ich fühle nichts. Als ich mich gerade frage, weshalb ich nicht reagiere, bricht mir am ganzen Oberkörper der Schweiß aus, und ich beginne zu zittern. Diese Nacht ist ein Albtraum. Doch bald wird es Tag. Dann ist alles real.
Frazer Melville und ich kennen uns noch nicht lange genug, um zu wissen, wie der andere in einer Krise reagiert. Daher bin ich ihm nicht böse, als er mir den Rücken kehrt. Er braucht Raum zum Nachdenken. Dennoch frage ich mich, was in ihm vorgeht. Nimmt er es mir übel, dass ich bei der Wohltätigkeitsveranstaltung sein Wissen anzapfen wollte und ihn damit in diese Sache hineingezogen habe? Nehme ich es ihm übel, dass er jetzt nicht weiterweiß, mich nicht mit der Versicherung tröstet, es sei nur ein Zufall, genau wie der Hurrikan? Wir sind zusammen und doch allein. Wir können einander nicht mehr helfen als den Menschen in Istanbul. Ungeschickt rolle ich mich von ihm weg und kämpfe mit meinen Gedanken.
Um fünf steht er schweigend auf und macht Kaffee. Wir sprechen kaum miteinander, trinken ihn bei laufendem Fernseher im Bett. Istanbul ist größtenteils dem Erdboden gleichgemacht. Mindestens drei Öltanker sind gesunken. Im Bosporus herrscht Chaos. An Land laufen weinende Frauen durch die Trümmer, Männer mit Spaten rennen umher. Ein Baby schreit durchdringend, scheinbar ohne Luft zu holen. Eine dicke Daunendecke aus Staub bedeckt die zerstörte Stadt. Wegen geborstener Gasleitungen brechen Brände aus. Die Bilder gehen über jeden erdenklichen Schrecken hinaus. Gebannt schauen wir hin. Frazer Melville blinzelt kaum.
Mit einem Rest tröstlicher Logik denke ich noch:
Zufälle passieren eben.
Doch dann meldet sich ein mächtigerer, nüchtern formulierter Gedanke: Frazer Melville und Gabrielle Fox haben ihr Wissen nicht weitergegeben. Damit tragen sie die Verantwortung |148| für den massiven
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