Endzeit
Wahrheit ängstlich und wütend bin und keine Lust habe, das zu verbergen –, fängt er an, auf seinem Stuhl zu schaukeln. Als ich den Hurrikan Stella erwähne, eine weitere »Vorhersage«, zuckt Sheldon-Gray mit dem Kopf wie eine Kuh, die Fliegen verscheucht. Mir wird klar, dass er mich jetzt noch weniger respektiert als zuvor. Sechzig Prozent weniger Respekt, dafür vierzig Prozent mehr Verachtung. Ich kann es ihm nicht verdenken. Ein Teil von mir empfindet ähnlich. Als ich ihm anbiete, alles noch genauer zu erklären, lehnt er entschieden ab. Für einen Psychiater, der es gewöhnt ist, seine Gefühle zu verbergen, ist er ungewöhnlich durchschaubar. Er zupft umständlich seine Manschetten zurecht und holt tief Luft.
»Gabrielle, ich bin schockiert und enttäuscht und – ja, ich muss es so sagen –
entsetzt.
Ich hatte Sie höher eingeschätzt. Sie können davon ausgehen, dass sie diesen Unsinn auch Hassan erzählt hat. Nur ist er ein Wissenschaftler.« Aber wie hat Dr. Ehmet reagiert?, frage ich mich. Wie kann Sheldon-Gray etwas darüber wissen, wenn Hassan schon im Flugzeug sitzt? »Die Geschichte wiederholt sich anscheinend«, fährt der Mann in Rosa fort. Seine Stimme klingt scharf wie die eines Politikers. Manchmal fühlt man sich sehr allein in seinem Körper. So wie ich jetzt. Ich würde am liebsten verschwinden und mich durch einen Klon ersetzen, der nicht rot wird. »Sie sollten etwas über Ihre Vorgängerin wissen. Wir sprachen bereits über ihre Notizen und weshalb ich sie aus der Patientenakte entfernt habe. Tatsache ist, aus ihnen geht hervor, dass Joy McConey sich in einer katastrophalen |151| Weise in Bethanys Phantasien hineingesteigert hat. Am Ende war sie davon überzeugt, dass sich Bethanys Vorhersagen erfüllten. Leider erlebe ich hier ein Déjà-vu. Joy McConey hat genau dort gesessen, wo Sie jetzt sitzen, und Behauptungen über Bethany aufgestellt, die deutlich zeigten, dass sie aus dem Gleichgewicht geraten war.« Ich nicke. »Daher werden Sie verstehen, dass ich sehr besorgt bin, wenn Sie sich als ebenso leichtgläubig erweisen. Brauchen Sie etwa auch eine
Auszeit
?« Er spuckt das Klischee aus wie eine Katze den Haarball und stößt gegen sein Mousepad.
»Aber das Erdbeben – sie hat es auf den Tag genau vorhergesagt. Das ist eine Tatsache. Genau wie den Hurrikan Stella.«
»Gabrielle. Haben Sie schon mal von einer Suchmaschine namens Google gehört?«
Ich verstehe, dass die Frage rhetorisch gemeint ist, und beantworte sie nicht. Am liebsten würde ich ihn mit seiner rosa Krawatte erwürgen, aber es ist ihm irgendwie gelungen, mich zu entmutigen. »Wir geben jetzt einfach mal ›Istanbul Erdbeben Vorhersagen‹ ein. Dann erweitern wir die Suche,
was uns die moderne Technik ja gestattet
, und wählen bestimmte Daten aus.« Er klickt demonstrativ mit der Maus. »Was haben wir denn da? Aha. Aha. Na gut. Keine Überraschung, Gabrielle, jedenfalls nicht für mich. Ein einziger Blick auf einen ganzen Bildschirm voller Informationen genügt, um zu wissen, dass die kleine Bethany Krall nicht als Einzige diese Tragödie, hm, vorhergesagt hat.«
Ich schaue hin. Jede Menge Suchergebnisse. »Ein Amateurgeologe aus Whitstable«, murmelt Sheldon-Gray, offensichtlich entschlossen, sich einen Spaß aus der Sache zu machen. »Eine Frau namens Mitzi aus Prag zitiert die Offenbarung:
›Und siehe, da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut; […] und alle Berge und Inseln wurden bewegt aus ihren Örtern.‹
Und dass die siebenjährige Trübsal begonnen habe, bei der die Entrückten in den Himmel aufsteigen und die Sünder in der Hölle brennen. Nun ja, wir wissen alle, dass die Pfingstbewegung in Europa groß |152| in Mode ist … da haben wir noch eine: eine Frau aus Utah, die mit Kristallen arbeitet und sich als Tochter des Planeten bezeichnet«, liest er vor. »Auch Kristalle sind heutzutage sehr gefragt, die dürfen wir keinesfalls unterschätzen.« Er scrollt hinunter. »Ich bin mir sicher, wenn wir bei Nostradamus nachschauen, werden wir auch dort einen Hinweis finden.« Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Er ist immer noch da. »Sie sind lange genug im Geschäft, um die Fallen zu kennen, Gabrielle. Wir alle sind bisweilen empfänglich für diese, hm,
gefühlstiefen
jungen Menschen. Wer professionell arbeitet, erkennt diese Empfänglichkeit und unternimmt die erforderlichen Schritte, um solche, hm, wenig
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