Endzeit
hinaufstapft. An seinem anderen Arm baumelt eine Tasche mit Bethanys Notizbüchern, die ich unter meinem Sitzkissen hinausgeschmuggelt habe. Falls es nach heute Morgen noch einen Rest kühler Distanz zwischen uns gegeben hat, löst er sich bei dieser würdelosen Komödie auf. Er bleibt auf jedem Absatz stehen, damit er Luft holen und ich lachen kann – es gibt nur Lachen oder Weinen, und wenn ich die Wahl zwischen Demütigung |155| und Belustigung habe, brauche ich nicht lange zu überlegen. Das Physikalische Institut der Universität ist in einem alten Gebäude untergebracht, das gerade aufwendig renoviert und von Asbest befreit wird und daher vollständig eingerüstet ist. Schon am Eingang sah ich, dass es unfreundlich gesinnt ist. Wenn nicht gar feindselig. »Tut mir leid«, entschuldigt sich Frazer Melville noch einmal keuchend. »Daran hätte ich denken sollen. Ich vergesse nur ständig, dass du behindert bist.«
»Ich bin nicht behindert.« Ich stoße die Worte im Rhythmus seiner Schritte hervor. »Und auch kein Mensch mit besonderen Bedürfnissen und auch kein Krüppel. Meine Beine funktionieren nicht. Also bin ich einfach gelähmt, okay?«
»Na schön, Mrs. Gelähmt«, japst er. »Dann wollen wir Ihre nicht funktionierenden Beine mal hier reinschaffen.« Er poltert durch eine Tür.
Drinnen setzt er mich auf ein abgewetztes Sofa und richtet sich ruckweise wieder auf, während ich mich umsehe. Ich hatte mir klare Linien, einen gewissen intellektuellen Minimalismus vorgestellt. Stattdessen gibt es Schreibtische voller Kabel, Computer, kompassähnlicher Maschinen mit zahlreichen Anzeigeskalen, an den Wänden Landkarten mit Höhenlinien und Computerausdrucke. All das inmitten eines Zimmerdschungels: Baumfarne, Orchideen, Palmen, Sukkulenten und sogar Kletterpflanzen, die ihre Ranken um Tischbeine und Lampenfüße geschlungen haben. Ich denke an meine kränkelnde Grünlilie, die Hinterlassenschaft von Joy McConey, und bekomme ein schlechtes Gewissen. Ich bin nicht mal in der Lage, mich um ein Lebewesen in einem Topf zu kümmern.
Als Frazer Melville die Tür schließt, werden drei Drucke von van Gogh sichtbar, die an die Wand gepinnt sind. Es sind Bilder aus der schlimmsten Phase im Leben des Künstlers, die er in Arles verbrachte. Da ist
Sternennacht,
das Bild, das Frazer Melville Bethany in Oxsmith gezeigt hat und auf dem sich Wettererscheinungen, Sternbilder und ein wilder Halbmond krümmen. Ich |156| weiß, dass er eine Reaktion von Bethany erwartete, ein Wiedererkennen, als könnte die psychische Störung, die sie mit van Gogh gemeinsam hat, die beiden zu Geistesverwandten machen. Er war enttäuscht über ihr mangelndes Interesse. Darunter hängt
Straße mit Zypresse und Stern
, das van Gogh in der reichen Schaffensperiode kurz vor seinem Tod malte. In der Mitte dominiert ein Baum. Rechts verläuft eine Straße, auf der zwei Gestalten auf den Betrachter zukommen, und links liegt ein Weizenfeld unter einem Himmel mit Sonne und Mond. Das dritte ist
Weizenfeld mit Krähen
, das er kurz vor seinem Selbstmord schuf. Daher hat man viel in die drei Straßen hineingedeutet, die verschiedene Wege durch ein gelbes Feld eröffnen, und in den düsteren, mit Krähen gefleckten Himmel, deren gebogene Form sich in den bedrohlichen schwarzen Wolken widerspiegelt, die schwer auf der Landschaft lasten.
»So«, sage ich, nachdem ich mich an das Durcheinander gewöhnt habe, in dem Frazer Melville arbeitet. »Du hast mich hierhergeschafft. Jetzt erkläre mal.«
Er deutet auf ein Blatt neben den van Goghs, das eine große, mit winzigen Pfeilen getupfte Kurve zeigt. »Dieser Kurve liegt eine Formel von Kolmogorow zugrunde, die von Physikern angewandt wird, um die Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung von Teilchen im Verhältnis zu anderen Teilchen in einer Flüssigkeit oder einem Gas vorauszusagen. Die Wirbel, die entstehen, wenn man Sahne in den Kaffee gießt oder wenn Rauch aus einem Schornstein steigt. Es gibt sogar Ökonomen, die dieses Muster in den Fluktuationen auf den Devisenmärkten erkennen wollen. Die Himmel van Goghs entsprechen den physikalischen Gesetzmäßigkeiten für Turbulenzen nach dem Kolmogorow-Modell für turbulente Strömungen. Und jetzt vergleiche mal die Himmel van Goghs mit denen von Bethany.«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Aber ein Wirbel ist ein Wirbel, oder?«
Anscheinend nicht. Sie besitzen eine Struktur, erklärt er mir, |157| erzählen eine Geschichte: Sie beschreiben einen
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