Endzeit
komplexen Tanz aus Strömungen und Gegenströmungen. Außerdem war van Gogh Epileptiker.
»Spielt das eine Rolle?«
»Vor einigen Jahren beschäftigte sich ein mexikanischer Physiker namens José Luis Aragón mit van Goghs Himmeln. Er analysierte sie mathematisch.« Frazer Melville schiebt mir einen wissenschaftlichen Aufsatz hinüber. Ich lese die Zusammenfassung von Aragón et al.
Es wird dargelegt, dass die Lichtmuster auf einigen der leidenschaftlichen Gemälden van Goghs die mathematische Struktur von turbulenten Störmungen aufweisen. Insbesondere wird aufgezeigt, dass die Funktion zur Wahrscheinlichkeitsverteilung (PDF) der Lichtfluktuation von Punkten (Pixeln), die durch eine Entfernung
R
voneinander getrennt sind, mit Kolmogorows Theorie zur Skalierung turbulenter Flüssigkeiten übereinstimmt. Diejenigen Gemälde van Goghs, die Turbulenzen abbilden, entstanden in seiner letzten Schaffensperiode, in der der Künstler zahlreiche Phasen längerer psychotischer Erregung durchlebte.
»Diese drei Bilder wurden gemalt, als er häufig unter epileptischen Anfällen litt«, sagt Frazer Melville. »Aragón zeigt in seinem Aufsatz, dass sie unsichtbare Turbulenzen tatsächlich mit extremer Genauigkeit abbilden. Dann spekuliert er darüber, ob die Wahnvorstellungen, die van Goghs epileptische Anfälle begleiteten, ihm möglicherweise ein einzigartiges Verständnis für die Fluiddynamik verliehen haben.«
»Und Bethanys EKT …«
»Die Stromstöße lösen einen Grand-mal-Anfall aus, der Ähnlichkeit mit einem epileptischen Anfall besitzt. Allerdings wird er künstlich erzeugt und kontrolliert, statt spontan durch eine Fehlfunktion im Gehirn zu entstehen.«
|158| »Du meinst, es könnte eine wissenschaftliche Erklärung für das geben, was sie vorhersagt?«
»Die muss es geben. Zumindest für das, was sie zu fühlen behauptet. Wie sie allerdings den genauen Ort und das Datum voraussagen kann – keine Ahnung. Ich hoffe, wir finden einen Hinweis darauf in den Notizbüchern.«
Ich fische sie aus der Tasche und lege sie auf den Schreibtisch. Er nimmt sich das oberste und blättert eifrig darin herum, doch bald wechselt sein Gesichtsausdruck von Interesse zu Bestürzung. »Mein Gott, das ist ja völlig chaotisch.«
»Was hattest du erwartet? Eine methodische Vorgehensweise? Vermutlich gibt es irgendwo ein Muster. Wir müssen es nur finden.«
»Aber wie?«, fragt er und betrachtet verzweifelt eine vollgekritzelte Seite.
»Wahrscheinlich sind die aufeinanderfolgenden Seiten chronologisch beschrieben.«
Er blättert weiter. Einige Seiten sind eng mit winzigen, dicht gedrängten Notizen bedeckt, unterbrochen von Zeichnungen, die über und über mit Pfeilen versehen sind. Auf anderen sieht man freihändige Zeichnungen, manchmal ganz normale Wolkenformationen, dann wieder welche, die den Sturmbildern gleichen, die Bethany im Kunstraum gemalt hat, als sie den Christus von Rio zeichnete. Zehn oder zwölf Seiten im aktuellsten Notizbuch, das nur zu einem Drittel voll ist, sind einer Serie gewidmet, die ich als »Maschinerie-in-Mondlandschaft« bezeichnen würde. Der Stil wirkt grafischer und distanzierter, ist weniger emotional aufgeladen als die anderen. Die Zeichnungen besitzen eine Struktur, eine geradezu architektonische Förmlichkeit. Sie erwecken den Anschein, als hätte man etwas in einen anderen Maßstab umgewandelt, das bereits außerhalb von Bethanys Imagination existiert und seine Wurzeln in der Realität hat. Für mich ergeben sie keinen Sinn, während Frazer Melville fasziniert scheint. »Inte ressant «, murmelt er und streicht über eine Seite, als vermute er |159| verborgene Blindenschrift darauf. »Keine Turbulenzen. Nichts, was an Luftströmungen erinnert. Wie würde sie wohl reagieren, wenn ich sie bäte, sie sich bildlich vorzustellen? Wie das wohl aussehen würde?« Das Szenario ist auf allen Bildern gleich: eine mit Schutt übersäte Landschaft und eine senkrechte Linie – manchmal dick, manchmal dünn –, die vom Himmel herabkommt und auf Bodenhöhe auf eine blumenförmige Mulde oder einen Trichter trifft, der sich unterirdisch fortsetzt, eine Kurve beschreibt, horizontal weiterverläuft und manchmal in einer undefinierbaren Form endet, manchmal in etwas, das eine Explosion darstellen könnte. Um den Trichter herum hat Bethany zerborstene Felsen oder Geröll gezeichnet.
»Was soll das sein?«, habe ich sie einmal gefragt.
»Keine Ahnung«, antwortete sie. Gereizt, als hätte
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