Endzeit
ich sie bei etwas Peinlichem ertappt. »Ich mache das einfach immer wieder.«
»Ich erkläre dir jetzt mal, was ich als Psychologin davon halte«, sage ich zu Frazer. »Mir liegen keine Beweise vor, dass sie sexuell missbraucht wurde, und sie hat mir auch nichts dergleichen erzählt. Dennoch vermute ich genau das. Oder etwas in der Richtung. Irgendein gewaltsames Eindringen. Jetzt sag mir, was du davon hältst.«
»Das kann ich nicht. Allerdings kommen mir die Zeichnungen zu technisch vor, um rein symbolisch zu sein. Für mich sieht das irgendwie nach Bergbau aus.«
»Und die hier?« Ich blättere und zeige ihm ein weiteres typisches Motiv: eine Ansammlung geometrisch aussehender, fünfseitiger Formen, die zu einem Block zusammengefügt sind. »Eine Bienenwabe? Ein Parkhaus? Stilisierte Särge?«
»Ich werde das alles meiner Ex schicken«, seufzt Frazer. »Ver mutlich wird sie sagen, es sei
hyessou
.«
»Was ist
hyessou
?«
»Das griechische Wort für totaler Schwachsinn«, antwortet er niedergeschlagen. »So wie ich Melina kenne, wird sie annehmen, der Tod meiner Mutter habe mich aus der Bahn geworfen.«
|160| Dann machen wir uns systematisch an die Arbeit. Die nächsten beiden Stunden sprechen wir kaum, sondern gehen die Notizbücher Seite für Seite durch und nummerieren sie, während Frazer Melville Fotokopien und Digitalfotos erstellt und auf seinen Computer lädt.
»Fertig«, sagt er schließlich und legt das letzte, unvollständige Notizbuch auf den Schreibtisch. Ich nehme es auf und blättere darin. Sie hat verschiedene Buntstifte für ihre Zeichnungen verwendet, doch der Text ist immer ein schwarzes Gekritzel. Dann halte ich inne. Die allerletzte Seite ist nur mit ihrer Handschrift bedeckt.
»Hast du das hier auch kopiert?« Frazer Melville schaut mich erschöpft und verwirrt an. »Es sieht aus wie eine Liste.«
»Schauen wir mal«, sagt er und zieht seinen Stuhl neben meinen. Die Liste besteht aus Daten, Orten und Ereignissen. Manche sind schwarz geschrieben, andere in Grün, Rot oder Blau, als gäbe es eine Art Code. Die erste Zeile lautet:
11. Februar. Vulkanische Aktivität, Ätna, Italien.
»Um diese Zeit gab es dort tatsächlich Aktivität«, sagt Frazer Melville. »Es war vor dem großen Ausbruch im März. Ich weiß aber nicht das genaue Datum. Das könnte ich nachprüfen.«
»Sie könnte es auch nachträglich geschrieben haben. Schau mal, wie sie die verschiedenen Farben einsetzt. Das wurde bestimmt nicht in einem Zug geschrieben. Was kommt dann?«
»24. Februar, Wirbelsturm, Osaka, Japan.«
Die Liste geht weiter mit März und April: ein Tornado in Südspanien und neue Geysire in Island, eine schwarze Wolkenformation in Russland, ein tödlicher Methan-Rülpser in einem See im Kongo. Ich lese ein Ereignis nach dem anderen vor, und Frazer Melville schaut im Internet nach. Jedes einzelne ist nicht nur passiert, sondern an dem Datum eingetreten, das Bethany in ihrem rot-schwarzen Notizbuch vermerkt hat. Der Ausbruch des Ätna am 18. März. Ein Erdbeben in Nepal am 20. April und ein Taifun am 29. April.
21. Mai: Gerölllawinen in den Alpen.
Wir beide erinnern uns an |161| die Berichte. Ein Dorf in der Schweiz wurde zerstört, weil der Permafrost unter dem Berghang taute und die Bindung an den Granit verlor. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen, als ich mich an die Fernsehbilder erinnere.
»Den hier brauchen wir nicht zu überprüfen«, sagt Frazer Melville und deutet auf den nächsten Eintrag.
29. Juli. Hurrikan im Südatlantik. Rio de Janeiro.
»Oder den nächsten.«
16. August. Nördliches Pakistan und Kaschmir. Erdstöße.
»Kommt mir bekannt vor«, sagt er, googelt rasch und nickt. Meine Brust wird eng.
»Lies den Rest vor.«
»22. August. Istanbul. Erdbeben.
5. September. Bangladesch. Starkregen, schwere Überflutungen.
13. September. Mumbai. Zyklon.
20. September. Hongkong. Brände infolge von Stürmen.
4. Oktober. Vulkan. Samoa.«
Das nächste Ereignis ist auf den 12. Oktober datiert und lautet einfach nur
Trübsal.
Es gibt keine Erklärung, was es ist oder wie es ausgelöst wird. Oder wo es passiert.
Frazer Melville schweigt lange. »Gehen wir mal davon aus, dass sie diese Ereignisse tatsächlich exakt vorhergesagt hat. Nicht nur Rio und Istanbul, sondern auch die davor. Was wir natürlich nicht belegen können. Aber gehen wir einfach mal davon aus.«
»Gut. Und dann?«
»Eine so hohe Anzahl korrekter Vorhersagen, und wohlgemerkt
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