Endzeit
geltend machen. Dieser Baum hat in dem Park, in dem ich mich mit Joy verabredet habe, schon eine eindrucksvolle Präsenz entwickelt. Ein leichter Wind fährt durch die silberfarbenen Baumkronen und bestreut die Wege darunter mit den schmalen, zungenförmigen Blättern. Wenn ich mich sehr anstrenge, schaffe ich es in neun Minuten dorthin. Heute brauche ich nur sieben.
Ich überquere die Fußgängerbrücke, die über den schlammigen Bach führt, der von aufgeplatzten Rohrkolben gesäumt wird. Ihre watteartigen Innereien flattern im Wind. Auf der Kletterpyramide des Spielplatzes hockt, völlig unpassend, eine erwachsene Frau. Sie sitzt da wie ein einsamer Leuchtturm, ihr blassrotes Haar schimmert. Als ich mich nähere und das kleine Tor öffne, grüßt sie und klettert derart umständlich an den Drahtseilen herunter, dass ich mich frage, warum sie überhaupt hinaufgestiegen ist. Der Spielplatz ist mit Gummi ausgelegt, auf dem meine Räder angenehm zischen. Ich setze das Geräusch auf die Liste der winzigen Freuden in meinem Leben, die mich für die ganze Scheiße entschädigen.
»Ich komme oft mit den Kindern her«, sagt Joy und steigt den letzten Meter herunter. Sie hockt sich mir gegenüber auf eine niedrige Metallstange, gibt mir aber nicht die Hand. Das ist mir recht, da ich aus psychologischen Gründen die Handschuhe anbehalten möchte. Sie kommt meiner Frage zuvor: »Ich habe drei. Zwei Mädchen und einen Jungen.« Sie trägt Jeans und ein khakifarbenes |208| T-Shirt . Dazu Wanderstiefel, als wäre sie ein moderner Tim, der mit Struppi in den Dschungel reisen will. »Ich muss mich fit halten«, sagt sie und wischt etwas Unsichtbares von ihren Knien. »Auf mich achtgeben. Wegen der Kinder. Ronan ist erst sieben. Viele Vitamine, gute Ernährung, wenig Stress.« Ihr Haar fällt ihr bis auf die Schultern und verströmt einen ätherischen, überirdischen Glanz, der gar nicht zu der Kampfkleidung passt. Ihr rundes Gesicht ist hübsch, aber unauffällig und geisterhaft bleich. Bis auf einige Mütter mit Kleinkindern, die im Sandkasten spielen, und Spaziergänger, die in einiger Entfernung ihre Hunde ausführen, sind wir unter uns. »Ich kann nicht lange bleiben. Ich musste mich hinausschleichen. Es ist nicht Nicks Schuld. Er glaubt, das Richtige zu tun. Er will mich vor mir selbst schützen, Sie wissen schon. Er begreift es nicht.« Die Worte stürzen förmlich aus ihr heraus. Sie erinnert mich an einen Teenager, der seiner Freundin Geheimnisse anvertraut. »Mein Mann gehört zu den Leuten, die alles mit eigenen Augen sehen müssen, bevor sie es glauben. Und wenn sie es sehen, verdrängen sie es sofort.«
Der Fluch der Therapeuten: Man analysiert automatisch das Verhalten anderer.
»Bitte sagen Sie mir, was Ihnen durch den Kopf geht, Joy.« Wie sehr ich diese Therapeutensprache hasse. Dennoch ist sie unvermeidlich. Im Geiste höre ich, wie Bethany verächtlich schnaubt.
»Als ich in Oxsmith gearbeitet habe, verlangte sie etwas von mir, zu dem ich nicht bereit war. Ich habe dafür bezahlt und werde bis ans Ende meines Lebens bezahlen. Das habe ich akzeptiert.« Ich habe den Park vorgeschlagen, doch der Spielplatz war ihre Wahl. Eine interessante Wahl: Regression als Sicherheit. Joy ist offenkundig an einem Ort, der so weit von ihrem rationalen Ausgangspunkt entfernt ist, dass man über ihre weite Reise nur staunen und sie respektieren kann. »Aber ich möchte nicht, dass auch Sie in diese Situation geraten. Darum bin ich Ihnen gefolgt und habe Sie angerufen. Ich will nicht, dass noch jemand so etwas durchmachen muss. Vor allem nicht Sie. Sie sehen aus, als hätten |209| Sie genug durchgemacht.« Der Ärger durchfährt mich wie ein scharfer Stich. Sie hat nicht das Recht, solche Urteile zu fällen. »Bethany ist gefährlich. Ihr Vater weiß alles darüber. Ich hätte es erkennen müssen, es stand alles in den Unterlagen. Es starrte mir Schwarz auf Weiß entgegen. Aber ich musste es auf die harte Tour lernen.«
»Sie stimmen Leonard Krall also zu, wenn er behauptet, Bethany wäre vom Teufel besessen?«, frage ich.
»Von einer Kraft. Wie ich sie nennen soll, weiß ich nicht. Ich war früher wie Sie. Es ist noch gar nicht so lange her, da glaubte ich nicht an das Böse. Jetzt schon.« Ihre Augen werden größer. Sie scheint außer Atem, als würden die Worte sie körperlich belasten.
»Was wollte Bethany denn so dringend?«
»Sie wollte, dass ich ihr zur Flucht verhelfe. Das habe ich natürlich nicht getan. Obwohl
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