Endzeit
mir bitte verraten, was in dich gefahren ist?«
»Herrgott noch mal, sag mir einfach die Wahrheit. Meinst du nicht, dass ich wenigstens das verdient habe?« Er schließt die Augen. Vielleicht hofft er, dass ich verschwinde. Vielleicht hoffe ich das auch. Doch ich bleibe die sture Verhörspezialistin. »Und?«
Er schaut zu Boden und wird rot. »Doch. Aber du musst mir vertrauen.« Also bitte. Ich kann nicht glauben, dass jemand, den ich mag – den ich mochte –, solch einen Quatsch absondert. Wie habe ich jemals … »Egal, ich muss Bethany trotzdem sehen.«
|212| »Wieso?«, fauche ich.
Er schaut mich ruhig an. »Bring mich zu ihr, dann wirst du es erfahren.« Wie konnte ich ihn nur so falsch einschätzen? Er hat sich als sexuell unsicher dargestellt, als Folge seiner gescheiterten Ehe. Wollte er mir etwa nur das Gefühl geben, auch ich könne ihm helfen? »Wo bist du übrigens die ganze Zeit gewesen? Ich war nämlich nicht der Einzige, der nicht telefonisch zu erreichen war«, sagt er vorwurfsvoll.
Anscheinend bin ich Therapeutin bis ins Mark, denn ich konstatiere mit einer gewissen Distanz:
Zorn als Tarnung für ein schlechtes Gewissen
. »Das habe ich dir doch gesagt. Ich war im Park.«
»Um diese Zeit? Was hast du im Park gemacht?«
Ich rolle ein Stück zurück. »Mich mit Joy McConey getroffen.«
Er hebt bestürzt die Arme. »Oh Jesus. Ganz allein? Warum um Himmels …?«
Zorn lodert in mir auf. »Weil sie mich darum gebeten hat. Und wie du siehst, bin ich heil zurückgekommen.« Äußerlich. »Au ßerdem ist sie harmlos.« Warum bin ich auf einmal diejenige, die sich für ihre Handlungen verteidigen muss?
»Ich weiß nicht, weshalb wir uns so streiten«, sagt er und hockt sich schließlich mit mir auf eine Höhe. »Erzähl mir einfach, was Joy gesagt hat. Es hat dich offensichtlich erschüttert.«
Wem kann ich es sagen, wenn nicht ihm? Ich fühle mich schrecklich allein, schwach und ungeliebt. Ich hasse mich, weil ich dem Druck nachgebe. »Sie hat Krebs und glaubt, Bethany hätte ihn als eine Art … Vergeltung verursacht. Weil sie ihr nicht zur Flucht verholfen hat.«
Er stößt einen genervten Laut aus. »Dann müssen wir erst recht beweisen, dass sich das, was mit Bethany passiert, wissenschaftlich erklären lässt. Dass dieser pseudo-religiöse Mist Schwachsinn ist. Komm«, sagt er, »wir nehmen dein Auto.«
Ich soll mit einem Mann zusammenarbeiten, der mich betrogen und mir ins Gesicht gelogen und das auch noch quasi zugegeben |213| hat? Ich soll
ihm
helfen? Andererseits haben mich Joys kahler Kopf und ihre verschwitzte Perücke auf meinem Schoß so tief verstört, dass ich nicht darüber nachdenken mag, weil das zu völlig verdrehten Schlussfolgerungen führt. Es nagt an mir. Wenn sie nun recht hat? So wütend ich auch über die erbärmliche, ungeschickte und würdelose Scharade des Physikers bin, wünsche ich mir dennoch brennend eine Erklärung, die ohne einen dogmatischen und faulen Begriff wie »das Böse« auskommt. Ich will genau wissen, was der Physiker von Bethany erfährt, und sei es nur, um zu beweisen, dass sich Joy so gründlich wie nur irgend möglich geirrt hat.
Die Station für Suizidgefährdete im St. Swithin’s Hospital ist von tiefer Verzweiflung und dem Gefühl extremen und wiederholten Scheiterns geprägt. Hier endet, wer den Selbstmord nicht schafft. Der Physiker und ich sind uns der Bedeutung dieser Station bewusst und haben einen zweifelhaften Waffenstillstand geschlossen, dem ich keine lange Lebensdauer prophezeie.
In einem Bett liegt ein alter Mann mit weißer Mähne, eine blutige Naht an seiner Kehle zeugt von einem altmodischen Rasiermesser oder einem brutal angesetzten Teppichmesser. Als wir hereinkommen, setzt er sich erwartungsvoll auf, stellt fest, dass er uns nicht kennt, und dreht den majestätischen Kopf zur Wand. Dann ist da ein Mädchen, kaum älter als Bethany. Ihr Gesicht ist von einem stumpfen Grau, als hätte man schwarze und weiße Wandfarbe gemischt. Das sichtbarste Symptom eines irreparablen Leberschadens, verursacht durch eine Überdosis Paracetamol, die innerhalb weniger Wochen zum Tod führt, sofern man kein Spenderorgan erhält. Dann wird sie sich leuchtend gelb färben und sterben. Ihre Eltern sitzen mit einem weinenden Jungen von etwa dreizehn Jahren an ihrem Bett. Ihre Gesichter sind leer, fassungslos oder tief konzentriert. Falls sie um Rettung beten, erbitten sie damit den plötzlichen Tod eines anderen Menschen oder ein
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