Endzeit
Wunder auf der Transplantationsliste. Der kleine Bruder |214| ist zu jung für so etwas. Das sind sie alle. Der September muss ein grausamer Monat sein, denn die Station ist fast voll. In anderen Betten sieht man die Umrisse von Menschen, deren Augen nach innen gekehrt sind. Die Stille ihres geknebelten, nicht herausgeschrienen Schmerzes umfließt uns, flüchtig wie der gekräuselte Abdruck, den der Wind im Wasser hinterlässt.
Die Stationsschwester telefoniert gerade. »Ich brauche den Defibrillator«, sagt sie. »Den neuen. Ja. Nein. Ja. Moment mal.« Als sie uns bemerkt, legt sie die Hand über den Hörer und bedenkt uns mit dem tapferen Lächeln eines Menschen, der sein Bestes gibt, aber gegen Windmühlen kämpft. Ich stelle mich als Therapeutin aus Oxsmith und meinen Begleiter als Kollegen aus Kiddup Manor vor. Wir wollen uns die Patientin kurz anschauen, erkläre ich, und die beiden Krankenschwestern, die Bethany betreuen, könnten ja so lange zehn Minuten Pause machen. Wenn Menschen derart unter Stress stehen, bleibt ihnen keine Zeit, andere der Lüge zu verdächtigen, vor allem nicht, wenn sie vom moralischen Thron eines Rollstuhls aus verkündet wird. Die Schwester nickt, schickt ihren Kolleginnen eine Nachricht auf den Pager und deutet auf eine Tür am Ende der Station, bevor sie sich wieder ihrem Gespräch zuwendet. Als ich die beiden Krankenschwestern gehen sehe, bin ich zum ersten Mal dankbar für den Personalmangel im staatlichen Gesundheitsdienst.
Bethany hat ein Zimmer für sich. Sie liegt mit geschlossenen Augen da, eine kaum sichtbare Wölbung unter der Bettdecke, wie eine Handvoll Knochen, seltsam gekrümmt, bei einem archäologischen Fund. Ihr frisch rasierter Kopf hinterlässt kaum eine Delle im Kissen. Die Kopfhaut ist geisterhaft weiß. An ihren Schläfen pulsiert ein Netz aus blauen Äderchen, das an den Plan der Londoner U-Bahn erinnert.
Der Physiker holt einen Plastikstuhl und stellt ihn auf die andere Seite des Bettes. »Roller«, krächzt Bethany mit geschlossenen Augen. Dann öffnet sie sie, sieht mich an und lächelt erschöpft. Es riecht nach Chemikalien, Salbe und Schweiß. Sie wirft einen |215| Blick auf den Physiker, der etwas in seiner Aktentasche sucht. Sie scheint ihn nicht zu erkennen. »Ich habe gehört, wie die Krankenschwester sagte, dass sie mich verlegen. Das dürfen Sie nicht zulassen. Sie wissen, was dann passiert. Ich werde mich umbringen. Außer die geben mir Strom. Hey, bekomme ich in Kiddup Strom?«, fragt sie den Physiker. »Ich brauche meinen Strom.«
»Ich bin nicht aus Kiddup. Ich bin Frazer Melville. Wir sind uns schon mal begegnet. Du hast mir deine Zeichnungen gezeigt.«
Sie trägt ein Krankenhausnachthemd. Ihre Arme sind bis über die Ellbogen bandagiert. Die Hände sind noch aufwendiger verbunden, die gespreizten Finger mit dünner Gaze einzeln umwickelt, sodass sie wie die Schwimmhäute eines Wasservogels aussehen.
»Er hat einen ganz schönen Sextrieb, was?«, murmelt sie und nickt zu dem Physiker hinüber. »Man kann es riechen.« Dann seufzt sie, als hätte die Beobachtung sie überanstrengt. Ich erröte bis zu den Haarwurzeln. Frazer Melvilles Blick begegnet meinem, und sein Mund zuckt in einem winzigen, stolzen Lächeln. Dann wird auch er rot. Der Augenblick ist so entsetzlich, dass man ihn in Flaschen abfüllen und als Abschreckungsmittel für Lebenslustige verkaufen sollte. Endlich bricht er den Bann.
»Bethany, ich finde einige deiner Zeichnungen sehr interessant.« Er holt mehrere Blätter aus der Aktentasche und hält ihr eins hin. »Ich würde dieses Bild gern verstehen. Herausfinden, was es bedeutet.«
Doch Bethany hat sich schon abgewandt, als würde es sie beunruhigen. Ihre verbundenen Hände zucken und krabbeln über die weiße Decke, als führten sie ein Eigenleben.
»Kannst du mir sagen, was diese senkrechte Linie bedeutet?« Er zeigt darauf.
Bethany schaut widerwillig hin und zögert. »Es ist hohl«, sagt sie leise.
»Ich muss wissen, wohin es führt.« Sein Blick ist eindringlich. Worauf will er hinaus? Was weiß er, das mir entgeht?
|216| »Unterirdisch. Ganz weit runter, richtig unter die Haut.« Ihre Augen scheinen sich nach innen zu kehren. »Es gräbt sich nach innen, und dann explodiert es, und alles platzt auf, und kawumm.« Ich zucke zusammen und sehe Leonard Krall vor mir: seinen sanften Blick, seine Energie, sein unheimliches Charisma.
»Und wenn man ihm nach oben statt nach unten folgt, wo landet man
Weitere Kostenlose Bücher