Engel aus Eis
Pedersen, denn er hat ziemlich viel Haut unter ihren langen Nägeln gefunden. Seiner Meinung nach hat sie ihren Mörder wahrscheinlich an den Armen oder im Gesicht gekratzt.« Martin lehnte sich an den Türrahmen.
»Hat denn der Ehemann Kratzspuren?« Mellberg stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und beugte sich nach vorn.
»Hört sich so an, als müssten wir ihm dringend einen Besuch abstatten.«
»In der Tat«, erwiderte Mellberg streng.
»Nimm Paula mit«, rief er ihm noch hinterher, aber Martin war bereits unterwegs.
In den letzten Tagen hatte er sich zu Hause auf Zehenspitzen bewegt. Er konnte einfach nicht glauben, dass der Zustand anhalten würde. Seine Mutter hatte es noch nie geschafft, vierundzwanzig Stunden trocken zu bleiben. Nicht, seit sein Vater weg war. Er wusste kaum noch, wie es vorher gewesen war, aber die wenigen blassen Erinnerungen, die er noch hatte, waren angenehm.
Obwohl er sich mit aller Kraft dagegen wehrte, begann er wieder Mut zu fassen. Mit jeder Stunde und jeder Minute mehr. Sie sah zittrig aus und warf ihm jedes Mal, wenn sie sich begegneten, einen verschämten Blick zu, aber sie war nüchtern. Er hatte überall nachgesehen und keine neue Flasche gefunden. Nicht eine einzige. Dabei kannte er all ihre Verstecke. Er hatte nie begriffen, warum sie sich die Mühe machte, das Zeug vor ihm zu verstecken. Sie hätte die Pullen auch einfach in der Küche stehen lassen können.
»Soll ich etwas zu essen machen?«, fragte sie leise und sah ihn unsicher an. Sie strichen wie zwei verängstigte Tiere umeinander, die sich zum ersten Mal begegnen und noch nicht wissen, wie die Dinge sich entwickeln werden. Er hatte sie schon so lange nicht mehr vollkommen nüchtern erlebt. Er kannte sie gar nicht, wenn sie keinen Schnaps intus hatte. Und sie wusste nicht, wer er war. Wie hätte sie das auch herausfinden sollen, wenn sie sich ständig in einem Alkoholnebel bewegte, der alles durchdrang, was sie sah und tat? Sie waren einander fremd geworden, doch sie standen sich wie neugierige, interessierte und recht hoffnungsvolle Fremde gegenüber.
»Hast du etwas von Frans gehört?«, fragte sie, während sie die Zutaten für Spaghetti mit Hackfleischsauce aus dem Kühlschrank holte.
Per wusste nicht genau, was er darauf antworten sollte. Er hatte immer zu hören bekommen, der Kontakt mit seinem Großvater sei verboten, und nun hatte dieser die Situation vorerst gerettet.
Carina bemerkte seine Verwirrung. »Es ist schon okay. Kjell soll sagen, was er will. Meinetwegen darfst du gerne mit Frans reden. Hauptsache …« Sie zögerte, weil sie befürchtete, etwasFalsches zu sagen und das zarte Pflänzchen zu zerstören, das seit einigen Tagen zwischen ihnen keimte, doch dann fasste sie sich ein Herz und fuhr fort: »Ich habe nichts dagegen, wenn du deinen Großvater triffst. Frans hat … Dinge gesagt, die endlich gesagt werden mussten und die mir klargemacht haben, dass …« Sie legte das Messer ab, mit dem sie die Zwiebeln schnitt. Als sie sich zu ihm umdrehte, sah Per, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Er hat mich davon überzeugt, dass vieles anders werden muss, und dafür werde ich ihm ewig dankbar sein. Aber du musst mir versprechen, dass du nichts mit diesen Menschen um ihn herum … zu tun hast …« Ihre Unterlippe zitterte. »Ich kann dir nichts garantieren. Hoffentlich verstehst du das. Es ist nicht leicht. Jeder Tag, jede Minute ist schwer. Aber ich gebe dir mein Wort, dass ich es versuche. Okay?« Wieder dieser verschämte und flehentliche Blick.
Per spürte, wie sich ein Teil des harten Klumpens in seiner Brust auflöste. In all den Jahren, vor allem in der ersten Zeit, nachdem sein Vater abgehauen war, hatte er sich nur eins gewünscht. Er wollte ein Kind sein dürfen. Stattdessen musste er einkaufen gehen, ihre Kotze wegwischen und aufpassen, dass sie nicht das Haus in Brand steckte, wenn sie im Bett rauchte. Er musste Dinge tun, die nicht zu den Pflichten eines kleinen Jungen gehören sollten. All das flimmerte jetzt an ihm vorbei, aber es spielte keine Rolle. Denn er hörte nur ihre Stimme, die sanfte Mutterstimme, die ihn anflehte. Er machte einen Schritt auf sie zu und legte die Arme um sie. Dann schmiegte er sich an sie, obwohl er fast einen Kopf größer war als sie, und erlaubte sich zum ersten Mal seit zehn Jahren, ein kleiner Junge zu sein.
Fjällbacka 1945
I st es nicht schön, frei zu haben?«, zwitscherte Britta und strich Hans über den Arm. Er lachte nur und
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