Engel aus Eis
Blick auf ihren Nacken und ihr Profil erhaschen, der Wind war überraschend lau, und der Kies unter ihren Füßen gab ein behagliches Knirschen von sich. So hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Richtig glücklich. Falls er ein so reines Glück überhaupt schon einmal erlebt hatte. So viel hatte dem im Weg gestanden. Er hatte so viel brennenden Hass, Erniedrigung und Angst erlebt. Er tat sein Bestes, um nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. In dem Augenblick, als er sich auf dem Boot von Elof versteckte, hatte er sich entschieden, alles hinter sich zu lassen und nicht zurückzublicken.
Doch nun tauchten die Bilder gegen seinen Willen wieder auf. Schweigend ging er neben Elsy her und versuchte, sie alle wieder in die Löcher zu jagen, in die er sie gesteckt hatte, aber sie quetschten sich an den Barrieren, die er errichtet hatte, vorbei und drangen bis in sein Bewusstsein vor. Vielleicht war das der Preis, den er für das Glück von eben zahlen musste. Diesen kurzen, bittersüßen Augenblick. In dem Fall war es das möglicherweise wert. Doch das nützte ihm nichts, als jetzt und hier, an Elsys Seite, die Gesichter, die Bilder, die Gerüche, die Erinnerungen und die Geräusche an die Oberfläche wollten. In Panik begriff er, dass er etwas unternehmen musste. Der Hals schnürtesich ihm zusammen, und sein Atem wurde schnell und flach. Er konnte sie nicht länger zurückhalten. Irgendetwas musste er tun.
In diesem Augenblick streifte ihn Elsys Hand. Er zuckte zusammen. Die Berührung war sanft und elektrisch aufgeladen und enthielt in ihrer Einfachheit alles, was nötig war, um die unmöglichen Gedanken zu verscheuchen. Abrupt blieb er auf der Anhöhe oberhalb des Friedhofs stehen. Elsy ging voran, und als sie sich umdrehte, befanden sich ihre Gesichter genau auf einer Höhe.
»Was ist los?«, fragte sie bekümmert. In diesem Augenblick wusste er nicht, was in ihn gefahren war. Er machte einen halben Schritt auf sie zu, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie weich auf die Lippen. Zuerst erstarrte sie, und er spürte wieder die Panik in sich aufsteigen. Dann entspannte sie sich plötzlich. Ihre Lippen wurden nachgiebig und öffneten sich schließlich ganz, ganz langsam. Starr vor Schreck, aber selig suchte seine Zunge vorsichtig nach der ihren. Er bemerkte, dass sie noch nie geküsst worden war, doch sie kam ihm instinktiv entgegen. Ihm wurden die Knie weich. Mit geschlossenen Augen entfernte er sich ein kleines Stück von ihr und hob erst nach einigen Sekunden die Lider. Als Erstes sah er ihren Blick. Und darin ein Spiegelbild seiner eigenen Gefühle.
Als sie langsam und stumm Seite an Seite nach Hause gingen, hielten die Bilder Abstand. Es war, als wären sie nie da gewesen.
A ls Erica hereinkam, saß Christian tief versunken vor dem Computer. Im Anschluss an den Ausflug nach Uddevalla war sie sofort in die Bibliothek gefahren. Sie war noch immer genauso verwundert wie beim Verlassen von Hermans Zimmer. Das Gefühl, die Namen zu kennen, hatte sie einfach nicht losgelassen, und nun schob sie Christian einen Zettel über den Tresen.
»Hallo, Christian, könntest du mir vielleicht helfen, herauszufinden, ob es etwas über diese beiden Namen gibt, Paul Heckel und Friedrich Hück?« Sie sah ihn erwartungsvoll an.
Er betrachtete das Blatt Papier. Dabei fiel ihr auf, wie abgekämpft er aussah. Wahrscheinlich war es nur eine herbstliche Erkältung, oder er hatte mit den Kindern zu viel um die Ohren, dachte sie, machte sich aber trotzdem Sorgen.
»Setz dich, ich suche nach den beiden Personen.« Sie tat, was er gesagt hatte. In Gedanken drückte sie die Daumen so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, doch als Christian beim Sondieren der Suchergebnisse keine Reaktion zeigte, schwand ihre Hoffnung.
»Tut mir leid, ich finde nichts.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Jedenfalls nicht in unseren Karteien und Datenbanken. Du kannst ja mal im Internet recherchieren. Das Problem ist vermutlich, dass es zwei nicht ungewöhnliche deutsche Namen sind.«
»Okay«, seufzte Erica enttäuscht. »Es gibt also keine Verbindung zwischen den beiden Männern und dieser Gegend hier?«
»Leider nicht.«
»Eswäre auch zu schön gewesen.« Plötzlich strahlte Erica. »Aber könntest du vielleicht nachsehen, ob es noch etwas über eine Person gibt, die in den Artikeln vorkommt, die du mir letztes Mal gegeben hast? Da hatten wir nicht ihn, sondern die Namen von meiner Mutter und ihren Freunden eingegeben.
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