Engel aus Eis
wiederfinden würde. Damit musste er leben. Und sie mussten es auch.
Seine Hand zitterte, als er die Kaffeetasse hob. Angewidert verzog er das Gesicht, als er merkte, dass der Kaffee während seiner Grübelei kalt geworden war, doch da er bereits einen kräftigen Schluck in den Mund genommen hatte, zwang er sich, ihn auch hinunterzuwürgen.
Da hörte er eine Stimme.
»Post für dich.«
Kjell drehte sich um und nickte zerstreut. »Danke.« Er streckte die Hand aus, nahm den Stapel entgegen, der an ihn persönlich gerichtet war, und blätterte ihn achtlos durch. Ein bisschen Werbung und die eine oder andere Rechnung. Und ein Brief. Mit einer vertrauten Handschrift auf dem Umschlag. Er erschauerte und musste sich setzen. Zunächst legte er den Brief vor sich auf den Schreibtisch und starrte ihn lange an. Sein Name und die Anschrift der Redaktion. Geschrieben mit altmodischer verschnörkelter Schrift. Die Minuten vergingen, während er versuchte, einen Impuls vom Gehirn an die Hand zu schicken und sie aufzufordern, nach dem Brief zu greifen und ihn zu öffnen. Doch es schien, als würden die Signale unterwegs irgendwo verlorengehen und stattdessen eine totale Lähmung hervorrufen.
Schließlich kam der Befehl doch an. Ganz langsam öffnete er das Kuvert. Darin lagen drei handgeschriebene Bögen. Er brauchte ein paar Sätze, bis er die Schrift entziffern konnte. Aber es ging.Kjell las. Als er fertig war, legte er den Brief zurück auf den Schreibtisch. Zum letzten Mal spürte er die Wärme der Hand seines Vaters in seiner. Dann nahm er seine Jacke und die Autoschlüssel. Den Brief steckte er behutsam in die Innentasche.
Nun konnte er nur noch eines tun.
Deutschland 1945
S ie hatten sich im Konzentrationslager Neuengamme versammelt. Es ging das Gerücht um, die weißen Busse müssten zunächst massenhaft andere Gefangene abtransportieren, unter anderem polnische, damit die nordischen Häftlinge Platz hatten. Das Gerücht besagte auch, dass es einige Menschen das Leben gekostet hatte. Die Internierten anderer Nationalitäten befanden sich in einem viel schlechteren Zustand als die Skandinavier, die auf verschiedensten Wegen Essenspakete erhalten hatten und daher die Zeit im Konzentrationslager verhältnismäßig gut überstanden hatten. Angeblich waren viele auf dem Transport gestorben oder hatten zumindest sehr gelitten, aber auch wenn das der Wahrheit entsprach, machte sich darüber jetzt niemand Gedanken. Nicht, wenn die Freiheit plötzlich in Reichweite lag. Bernadotte hatte mit den Deutschen verhandelt und die Erlaubnis erhalten, Busse zu schicken, um die nordischen Häftlinge abzuholen, und nun waren sie hier.
Auf wackligen Beinen betrat Axel den Bus. Für ihn war es der zweite Transport innerhalb von wenigen Monaten. Von Sachsenhausen waren sie plötzlich nach Neuengamme verlegt worden. Oft wurde er nachts wach und erinnerte sich an die grauenhafte Fahrt. Eingesperrt in Güterwaggons hatten sie hilflos und apathisch dagesessen und dem Einschlagen der Bomben gelauscht, die ringsum auf Deutschland fielen. Manche schlugen so dicht neben ihnen ein, dass sie die Erde auf das Zugdach prasseln hörten. Aber keine Bombe traf. Aus irgendeinem Grundhatte er auch das überlebt. Und nun, als sein letzter Lebenswille beinahe erloschen war, kam der Bescheid, dass endlich Rettung nahte. Die Busse, die sie zurück nach Schweden bringen sollten. Nach Hause.
Er konnte sich mit eigener Kraft zu einem Bus schleppen. Einige waren so schwach, dass sie getragen werden mussten. In dem engen Fahrzeug drängte sich viel Elend. Vorsichtig suchte er sich einen Platz, kauerte sich auf den Fußboden und legte den Kopf an die angezogenen Knie. Er konnte es nicht fassen, dass er nach Hause kommen würde. Zu Mutter und Vater. Und Erik. Nach Fjällbacka. Vor seinem inneren Auge sah er es ganz deutlich vor sich. Alles, woran er so lange nicht zu denken gewagt hatte. Doch nun, da die Rückkehr in Reichweite lag, ließ er seine Gedanken und Erinnerungen fließen. Gleichzeitig wusste er, dass es nie wieder so sein würde wie früher. Er würde nie mehr derselbe sein, denn er hatte Dinge gesehen und erlebt, die ihn für immer verändert hatten.
Er hasste diese Wandlung und alles, was er hatte tun und mit ansehen müssen. Mit dem Einsteigen in den Bus war es noch nicht überstanden. Die Reise war lang und voller Schmerz, Körperflüssigkeiten, Krankheit und Entsetzen. Am Straßenrand sahen sie brennendes Kriegsmaterial und ein Land in Trümmern.
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