Engel aus Eis
Zwei starben unterwegs. An einen von ihnen hatte er sich in den kurzen Augenblicken des Schlafs gelehnt, die ihm vergönnt waren, wenn der Bus durch die Nacht fuhr. Als er am Morgen wach wurde und sich aufrichtete, sackte der Mann in sich zusammen. Axel stieß ihn zur Seite und rief nach einem der Wächter. Dann sank er wieder auf seinen Platz. Noch ein Toter. Er hatte so viele gesehen.
Ihm fiel auf, dass er sich ständig ans Ohr fasste. Manchmal rauschte es darin, aber oft war da nur eine hohle Stille. Er durchlebte es wieder und wieder. Natürlich hatte er seitdem viel schlimmere Dinge überstanden, aber irgendwie hatte der Anblick des Gewehrs, das der Wächter gegen ihn erhoben hatte, für ihn den ultimativen Verrat bedeutet. Sie waren sich schließlich als Menschen begegnet. Obwohl sie auf verschiedenen Seiten standen, hatten sie einen freundschaftlichen Ton gefunden, derihm Respekt und Vertrauen einflößte. Doch in dem Augenblick, als er den Jungen die Waffe heben sah und im nächsten Moment den Schmerz fühlte, weil das Gewehr ihn am Ohr getroffen hatte, verlor er alle Illusionen über die Güte des Menschen.
Als er umringt von Kranken, Verletzten und Verstörten in dem Bus auf dem Weg nach Hause saß, gab er sich selbst ein heiliges Versprechen. Er würde nicht ruhen, bis er alle Schuldigen zur Rechenschaft gezogen hätte. Sie hatten die Grenzen seiner Menschlichkeit übertreten, und es war seine Pflicht, keinen von ihnen entkommen zu lassen.
Axel griff sich ans Ohr und sah sein Zuhause vor sich. Bald würde er dort sein.
W ährendsie sorgfältig jedes Dokument noch einmal durchging, kaute Paula auf einem Stift. Sie hatte alle Unterlagen, die mit dem Fall Erik Frankel zusammenhingen, vor sich liegen. Irgendwo musste noch etwas sein. Ein kleines Detail, eine winzige Information, die bewies, dass der Verdächtige, Frans Ringholm, auch ihn ermordet hatte. Sie wusste, dass es gefährlich war, das Ermittlungsmaterial durch diese Brille zu betrachten, denn sie suchte nach Beweisen, die in eine ganz bestimmte Richtung deuteten, dabei gab sie sich Mühe, so offen wie möglich zu sein, und achtete auf alles, was ihr unklar erschien. Bis jetzt hatte sie nicht das Geringste entdeckt, aber sie hatte noch viel vor sich.
Manchmal fiel es ihr jedoch schwer, sich zu konzentrieren. Johanna blieb nur noch wenig Zeit bis zu ihrem Termin, und theoretisch konnte es jeden Moment losgehen. Sie empfand eine seltsame Mischung aus Angst und Vorfreude. Ein Kind. Verantwortung. In einem Gespräch mit Martin hätte sie wahrscheinlich jeden einzelnen Gedanken über die Zukunft bei ihm wiedererkannt, aber sie hatte ihre Sorgen für sich behalten. In ihrem Fall waren sie so viel größer als die normale Unruhe, die alle werdenden Eltern verspürten. War es ein Fehler gewesen, den Traum von einem gemeinsamen Kind in die Tat umzusetzen? Würde es sich als egoistische Handlung erweisen, für die ihr Kind den Preis zahlen musste? Hätten sie vielleicht lieber in Stockholm bleiben sollen, damit ihr Kind in einer Großstadt aufwachsen konnte?Möglicherweise war es dort einfacher als hier, wo sie definitiv auffallen würden. Doch irgendetwas sagte ihr, dass es trotzdem richtig gewesen war, hierherzuziehen. Ihr war so viel Freundlichkeit begegnet, und bis jetzt hatte sie noch niemand schief angesehen. Allerdings würde sich das eventuell ändern, wenn das Baby da war. Man konnte es nicht wissen.
Seufzend nahm Paula die nächste Seite vom Stapel. Die technische Analyse der Mordwaffe. Die Steinbüste, die ursprünglich auf der Fensterbank gestanden hatte, war blutbeschmiert unterm Schreibtisch gefunden worden. Doch damit ließ sich nicht viel anfangen. Sie hatten keine Fingerabdrücke, keine Spuren von fremdem Material, nichts. Nur Eriks Blut, Haare und Hirnmasse. Frustriert legte sie das Blatt Papier weg und studierte die Bilder vom Tatort. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie oft sie das getan hatte. Es verblüffte sie, dass Patriks Frau der vollgekritzelte Notizblock auf dem Schreibtisch aufgefallen war. Ignoto milite … der unbekannte Soldat. Sie selbst hatte die Worte nicht entdeckt, als sie prüfend die Fotos betrachtete, und selbst wenn sie es getan hätte, wäre sie vermutlich nicht auf die Idee gekommen, die Bedeutung nachzuschlagen. Das musste sie sich eingestehen. Erica hatte das Gekritzel nicht nur bemerkt, sondern es war ihr auch gelungen, es in das Mosaik aus Anhaltspunkten und Indizien einzufügen, die dazu führten, dass sie
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