Engel aus Eis
Familie.«
»Sie sagten, das sei Ihre letzte Begegnung gewesen. Wie kam das? Warum haben Sie sich im Sommer nicht gesehen? Wieso haben Sie sich nicht gefragt, wo er war?«
Viola verzog gequält das Gesicht, weil sie mit den Tränen kämpfte. Mit belegter Stimme sagte sie schließlich: »Weil Erik Abschied von mir genommen hat. Er ging gegen Mitternacht von hier weg, oder besser gesagt, er torkelte. Als Letztes sagte er, wir müssten uns trennen. Er bedankte sich für die gemeinsame Zeit und küsste mich auf die Wange. Dann ging er. Ich dachte, er hätte es im Rausch dahergesagt. Am nächsten Tag habe ich mich wie eine Närrin verhalten, den ganzen Tag habe ich das Telefon angestarrt und gewartet, dass er anrufen und alles erklären oder sich entschuldigen würde oder … irgendetwas … Aber ich habe nichts von ihm gehört. Ich mit meinem idiotischen Stolz habe ihn natürlich auch nicht angerufen. Wenn ich es getan hätte, wenn ich nur nicht so starrsinnig gewesen wäre und gleich aufgegeben hätte, dann hätte er vielleicht nicht so dort sitzen müssen …« Nun brachen die Tränen aus ihr heraus, und sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
Doch Paula verstand auch so, was sie meinte. Sie legte ihre Hand auf die von Viola und sagte mit sanfter Stimme: »Sie hätten ihm nicht helfen können. Woher sollten Sie es wissen?«
Viola nickte widerwillig und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab.
»Wissen Sie noch, an welchem Tag er hier war?«, fragte Patrik voller Hoffnung.
»Ich kann im Kalender nachsehen.« Viola stand auf, offensichtlich dankbar für die Pause. »Da ich mir jeden Tag ein paar Notizen mache, bekomme ich es bestimmt heraus.« Sie ging aus dem Zimmer und blieb eine Weile weg.
»Es war der fünfzehnte Juni«, sagte sie, als sie zurückkehrte. »Ich weiß noch, dass ich am Nachmittag beim Zahnarzt gewesen war, es gibt also keinen Zweifel.«
»Okay, danke.« Patrik stand auf.
Als sie sich von Viola verabschiedet hatten und wieder auf der Straße standen, hatten sie alle drei denselben Gedanken: Was hatte sich am fünfzehnten Juni ereignet? Warum hatte Erik sich ganz gegen seine Natur volllaufen lassen, wieso hatte er so abrupt die Beziehung mit Viola abgebrochen? Was war passiert?
»Sie hat sie doch überhaupt nicht mehr unter Kontrolle!«
»Jetzt bist du aber ungerecht, Dan! Wie kannst du so sicher sein, dass du nicht auch auf den Trick hereingefallen wärst?« Anna lehnte mit verschränkten Armen an der Spüle und schaute Dan wütend an.
»Niemals!« Dans Haare standen wirr zu Berge, weil er sich die ganze Zeit frustriert mit den Händen über den Kopf fuhr.
»Aha! Dabei hast du doch neulich ernsthaft überlegt, ob nachts jemand in die Speisekammer eingebrochen sein könnte. Hätte ich nicht die Verpackungen unter Linas Kopfkissen gefunden, würdest du draußen immer noch nach Einbrechern mit Schokoladenmündern suchen …« Anna musste ein Lachen unterdrücken, aber immerhin ließ ihre Wut ein wenig nach. Als Dan sie ansah, zuckten seine Mundwinkel ebenfalls.
»Sie klang aber auch sehr überzeugend, als sie ihre Unschuld beteuerte.«
»Ganz deiner Meinung. Das Kind wird einen Oscar bekommen, wenn es groß ist. Aber denk daran, dass Belinda genauso überzeugend wirkt. Vielleicht ist es dann gar nicht mehr so verwunderlich, dass Pernilla ihr geglaubt hat. Du kannst nicht ernsthaft behaupten, dass dir so etwas nie passieren würde.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, murrte Dan. »Aber sie hätte die Mutter der Freundin anrufen und sicherheitshalber nachfragen sollen. Ich hätte das jedenfalls gemacht.«
»Ganz bestimmt – und von nun an wird Pernilla es auch tun.«
»Warum redet ihr über Mama?« Belinda kam die Treppe herunter. Sie war immer noch im Nachthemd, und ihre Haare erinnerten an einen Wischmopp. Seit sie am Samstagmorgen verkatert und ganz offenbar von Reue geplagt bei Erica und Patrik abgeholt worden war, weigerte sie sich aufzustehen. Nun war ihre Reue anscheinend größtenteils verschwunden, und der Zorn, der sich ohnehin zu ihrem ständigen Begleiter entwickelt hatte, kam wieder zum Vorschein.
»Wir besprechen nichts Besonderes«, erwiderte Dan müde. Ihm war bewusst, dass mal wieder ein unausweichlicher Konflikt im Anmarsch war.
»Ziehst du schon wieder über meine Mutter her?«, zischte Belinda in Annas Richtung. Anna warf Dan einen hilflosen Blick zu. Dann drehte sie sich zu Belinda um und sagte ganz ruhig: »Ich habe noch nie schlecht über deine Mutter
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