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Engel aus Eis

Titel: Engel aus Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla L�ckberg
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glaube, er heißt Gollum.« Gösta tat sein Bestes, um Mellbergs Gang zu imitieren. Annika schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten.
    »Mellbergs Körper muss einen schweren Schock erlitten haben. Er hat doch im ganzen Leben noch keinen Sport getrieben.«
    »Das kann ich mir auch nicht vorstellen. Es ist mir ein Rätsel, wie er in der Ausbildung die Fitnesstests überstanden hat.«
    »Vielleicht war er in seiner Jugend ja ein richtiger Athlet.«
    Annika überlegte noch einmal, was sie da eben gesagt hatte, und schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Meine Güte, das ist der Witz des Tages. Mellberg beim Salsakurs. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.« Sie wollte Maja einen Löffel in den Mund stecken, aber das Kind blieb stur. »Dieses kleine Mädchen hier will nichts essen. Wenn ich ihr nicht wenigstens ein paar Happen einflöße, wird er sie mir nie wieder anvertrauen«, seufzte sie. Sie streckte noch einmal den Löffel aus, doch Majas Mund war so uneinnehmbar wie Fort Knox.
    »Darf ich es mal versuchen?« Gösta griff nach dem Löffel. Annika sah ihn verblüfft an.
    »Du? Versuch es ruhig, aber mach dir keine großen Hoffnungen.«
    Wortlos tauschte Gösta den Platz mit Annika und setzte sich neben Maja. Er strich die Hälfte des Essens, das Annika auf den Löffel gehäuft hatte, wieder ab und hielt ihn in die Luft. »Brumm, brumm, brumm, hier kommt das Flugzeug …« Er ließ den Löffel wie ein Flugzeug durch die Luft sausen und wurde mit Majas ungeteilter Aufmerksamkeit belohnt. »Brumm, brumm, brumm, und jetzt fliegt es direkt in deinen …« Majas Mund öffnete sich, und das Flugzeug mit seiner Ladung aus Spaghetti und Hackfleischsauce konnte wie auf Kommando zur Landung ansetzen.
    »Hm … war das lecker.« Gösta legte noch einen kleinen Haufen auf den Löffel. »Tuff, tuff, tuff, hier kommt die Eisenbahn … Tuff, tuff, tuff und rein in den Tunnel.« Wieder ging Majas Mund auf, und der Zug glitt in den Tunnel.
    »Donnerwetter!«, staunte Annika. »Wo hast du das gelernt?«
    »Ach, das war doch gar nichts«, erwiderte Gösta schüchtern, lächelte jedoch voller Stolz, als das Rennauto mit Happen Nummer drei ins Ziel raste.
    Annika ließ sich am Küchentisch nieder und sah zu, wie Gösta langsam den Teller leerte und Maja jeden Bissen hinunterschluckte.
    »Tja«, sagte sie milde, »das Leben ist manchmal ungerecht.«
    »Habt ihr nie über eine Adoption nachgedacht?«, fragte Gösta, ohne sie anzusehen. »Zu meiner Zeit war das nicht so verbreitet, aber heute würde ich keine Minute zögern. Mittlerweile ist doch jedes zweite Kind adoptiert.«
    »Wir haben darüber gesprochen«, Annika malte mit dem Zeigefinger Kreise auf die Tischdecke, »aber irgendwie ist nichts daraus geworden. Irgendwie wollten wir unser Leben mit anderen Dingen ausfüllen, aber …«
    »Es ist doch noch nicht zu spät«, sagte Gösta. »Wenn ihr jetzt anfangt, dauert es vielleicht gar nicht so lange. Welche Farbe das Kind hat, ist doch völlig egal, nehmt einfach das Land mit derkürzesten Warteschlange. Es gibt so viele Kinder, die ein Zuhause brauchen. Wenn ich ein Kind wäre, würde ich meinem Schutzengel danken, wenn ich zu dir und Lennart käme.«
    Annika schluckte und starrte auf ihren Zeigefinger. Göstas Worte hatten etwas in ihrer Brust zum Leben erweckt, das Lennart und sie in den vergangenen Jahren verdrängt hatten. Vielleicht, weil sie Angst hatten. Durch die vielen Fehlgeburten, die all ihre Hoffnungen immer wieder zunichtegemacht hatten, waren ihre Herzen in gewisser Weise zart und zerbrechlich geworden. Sie wagten es nicht, noch einmal zu hoffen, weil sie nicht riskieren wollten, noch einmal zu scheitern. Doch vielleicht waren sie jetzt stark genug und hatten den Mut. Denn der Wunsch war immer noch da. Genauso stark und genauso heiß. Sie hatten es nicht geschafft, die Sehnsucht nach einem Kind zu unterdrücken, das man in den Armen halten und liebhaben konnte.
    »Nun muss ich dringend etwas tun.« Gösta stand auf, ohne Annika anzusehen, und tätschelte Maja unbeholfen den Kopf. »Wenigstens hat sie gegessen, und Patrik braucht nicht zu denken, dass sie in unserer Obhut verhungert.«
    Er war schon fast draußen, als Annika sich leise bedankte.
    Gösta nickte beschämt. Dann verschwand er in seinem Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Er setzte sich an den Computer, starrte aber nur den Bildschirm an. In Wahrheit sah er Maj-Britt vor sich. Und den Jungen, der nur ein paar Tage alt geworden war.

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