Engel aus Eis
Seitdem war so viel Zeit vergangen. Eine Ewigkeit. Fast ein ganzes Leben. Und doch spürte er noch immer die kleine Hand, die seinen Zeigefinger umklammerte.
Seufzend klickte Gösta das Golfspiel wieder an.
Drei Stunden lang konnte sie den katastrophalen Besuch bei Britta verdrängen. In dieser Zeit schaffte sie es, fünf Seiten ihres neuen Buchs zu schreiben. Dann kreisten ihre Gedanken wieder um Britta, und sie gab es auf.
Beim Verlassen von Brittas Haus hatte sie sich irrsinnig geschämt. Hermans Blick, als sie am Küchentisch neben seiner vollkommen aufgelösten Frau saß, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Erica konnte ihn verstehen. Es war furchtbar dumm vonihr gewesen, die Signale nicht richtig zu deuten. Auf der anderen Seite bereute sie den Besuch nicht wirklich, denn allmählich bekam sie immer mehr Puzzleteile über ihre Mutter zusammen. Verschwommen und vage zwar, aber zumindest wusste sie nun viel mehr als früher.
Eigentlich war es merkwürdig. Die Namen Erik, Britta oder Frans hatte sie vorher noch nie gehört. Trotzdem mussten sie zu einer gewissen Zeit eine überaus wichtige Rolle im Leben ihrer Mutter gespielt haben. Doch keiner von ihnen schien im Erwachsenenalter Kontakt mit den anderen gehabt zu haben. Obwohl sie alle in dem kleinen Fjällbacka geblieben waren, lebten sie anscheinend in verschiedenen Welten. Was Axel und Britta ihr über ihre Mutter erzählt hatten, passte erstaunlich gut zusammen, stimmte jedoch überhaupt nicht mit ihrem eigenen Bild von ihrer Mutter überein. Sie hatte ihre Mutter nie als warmherzige oder fürsorgliche Person wahrgenommen. Sie konnte nicht behaupten, dass ihre Mutter ein bösartiger Mensch gewesen wäre, aber sie war immer distanziert und verschlossen. Die Wärme, die sie anscheinend einst ausgestrahlt hatte, war im Laufe des Lebens verflogen. Schon lange vor der Geburt von Erica und Anna war nichts mehr davon übrig. Erica empfand plötzlich eine lähmende Trauer über all das, was ihr entgangen war und nie zurückkommen würde. Ihre Mutter war nicht mehr da, sie war vor vier Jahren mit Tore, dem Vater von Erica und Anna, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Erica konnte sie nicht wieder zum Leben erwecken, sie konnte sich nicht mehr mit ihr versöhnen, sie um nichts mehr bitten und ihr auch keine Vorwürfe mehr machen. Sie konnte nur hoffen, dass sie irgendwann verstehen würde, was mit der Elsy passiert war, die ihre Freunde als freundlich, warmherzig und mitfühlend beschrieben hatten.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.
»Anna? Komm rein.« Die scharfen Augen der großen Schwester entdeckten sofort die roten Ränder um Annas Augen.
»Was ist los?« Die Frage klang sorgenvoller als beabsichtigt. Anna hatte in den letzten Jahren so viel durchgemacht, und Erica hatte es nie ganz geschafft, die Mutterrolle abzulegen, die sie in ihrer Jugend gegenüber ihrer kleinen Schwester eingenommen hatte.
»Die üblichen Probleme, wenn man zwei Familien mischt.« Anna lächelte gequält. »Nichts, womit ich nicht auch alleine fertig werden würde, aber es wäre schön, mit jemandem zu reden.«
»Dann lass uns reden«, sagte Erica. »Ich hole uns einen Kaffee, und wenn ich in unserer Schublade wühle, finde ich bestimmt noch etwas Leckeres, womit wir uns trösten können.«
»Seitdem du verheiratet bist, pfeifst du also auf die schlanke Linie.«
»Erinnere mich nicht daran!«, seufzte Erica und ging in die Küche. »Nach einer Woche Stillsitzen muss ich mir fast eine neue Hose kaufen. Die hier sitzt in der Taille wie eine Wurstpelle.«
»Ich weiß, wovon du redest.« Anna setzte sich an den Küchentisch. »Ich habe dem Zusammenleben auch ein paar Pfunde zu verdanken, und die Tatsache, dass Dan endlos futtern kann, ohne zuzunehmen, macht es nur noch schlimmer.«
»Dafür muss man ihn natürlich hassen.« Erica legte etwas Gebäck auf einen Teller. »Isst er immer noch Zimtschnecken zum Frühstück?«
»Hat er das etwa schon gemacht, als ihr zusammen wart?« Anna schüttelte lachend den Kopf. »Es ist nahezu unmöglich, den Kindern klarzumachen, wie wichtig ein gesundes Frühstück ist, wenn Dan direkt vor ihrer Nase Zimtschnecken in seinen Kakao tunkt.«
»Wenn Patrik Käsebrot mit Kaviarpaste in den Kakao stippt, ist das auch nicht gerade der Hit. Was ist überhaupt passiert? Macht Belinda wieder Ärger?«
»Wahrscheinlich ist das der Grund, aber irgendwie läuft im Moment alles so schief. Heute sind Dan und ich aneinandergerasselt und …«
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