Engel aus Eis
die mich für den Rest meines Lebens traumatisieren?«
»Nein«, lachte Erica. »Du bist echt gestört. Sie sind hundertprozentigjugendfrei. Es steht generell nicht viel drin. Bloß ziemlich öde Alltagsbeschreibungen. Über eine Sache habe ich jedoch nachgedacht …« Zum ersten Mal formulierte Erica den Gedanken, der sich schon seit geraumer Zeit am Rand ihres Bewusstseins abzeichnete.
»Aha?«, fragte Anna neugierig, während sie in den Büchern blätterte.
»Ich frage mich, ob es irgendwo noch mehr davon gibt. Die letzte Seite im vierten Buch ist vom Mai 1944. Dann kommt nichts mehr. Es könnte natürlich sein, dass Mutter keine Lust mehr hatte, Tagebuch zu schreiben, aber warum ausgerechnet, als das vierte Buch voll war? Das kommt mir ein bisschen merkwürdig vor.«
»Du glaubst also, es gibt noch mehr Tagebücher? Und was sollte darin stehen, wenn diese schon nichts hergeben? Ich meine, es sieht nicht so aus, als wäre Mutters Leben atemberaubend spannend gewesen. Sie ist hier geboren und aufgewachsen, hat Vater kennengelernt und uns bekommen. Mehr war da irgendwie nicht.«
»Sag das nicht«, murmelte Erica nachdenklich. Sie überlegte, wie viel sie der Schwester erzählen sollte. Schließlich hatte sie nichts Konkretes in der Hand. Es war eher ein Bauchgefühl. Durch das, was sie bislang herausgefunden hatte, schienen die Konturen von etwas Größerem hindurch, und das hatte seinen Schatten auch auf ihr und Annas Leben geworfen. Obwohl sie nie erwähnt worden waren, mussten der Orden und das Hemdchen eine Rolle im Leben ihrer Mutter gespielt haben.
Sie atmete tief durch und berichtete detaillierter von den Gesprächen mit Axel und Britta.
»Du bist also wenige Tage nachdem sein Bruder tot aufgefunden wurde, zu ihm nach Hause gegangen, um Mutters Orden abzuholen? Er muss dich für einen richtigen Aasgeier halten«, sagte Anna mit einer Brutalität, die sich nur jüngere Geschwister erlauben können.
»Willst du jetzt wissen, was sie gesagt haben, oder nicht?«, fragte Erica verärgert, musste Anna jedoch teilweise recht geben. Es war nicht besonders feinfühlig von ihr gewesen.
Als Erica ihren Bericht beendet hatte, runzelte Anna die Stirn. »Das klingt, als hätten sie eine vollkommen andere Frau gekannt. Was hat Britta über den Naziorden gesagt? Wusste sie, woher Mutter ihn hatte?«
Erica räusperte sich. »Ich kam nicht dazu, sie danach zu fragen. Sie hat Alzheimer und war plötzlich ganz verwirrt. Ihr Mann kam nach Hause und wurde sehr wütend und …«, Erica hüstelte, »forderte mich auf, das Haus zu verlassen.«
»Erica!«, rief Anna. »Du hast eine geistig verwirrte Dame besucht und ausgequetscht? Und ihr Mann hat dich rausgeschmissen! Ich kann ihn verstehen … Die ganze Sache scheint dich ziemlich durcheinandergebracht zu haben.« Anna schüttelte ungläubig den Kopf.
»Bist du denn gar nicht neugierig? Wieso hat Mutter all diese Sachen aufbewahrt? Und warum beschreiben Menschen, die sie gekannt haben, eine für uns wildfremde Person? Das ist nicht die Elsy unserer Kindheit. Irgendwas muss in der Zwischenzeit passiert sein … Britta wollte gerade darauf eingehen, als die Verwirrtheit begann, sie sagte etwas von alten Knochen und … Mist, ich erinnere mich nicht mehr genau, aber es klang, als würde sie es als Metapher für etwas verwenden, das irgendwo versteckt ist, und … vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, aber irgendetwas ist daran merkwürdig. Ich werde der Sache auf den Grund gehen, denn …« Das Telefon klingelte und unterbrach Ericas Redefluss.
»Erica. Ach, hallo, Karin.« Erica drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu Anna um. »Danke, alles in Ordnung. Wie nett, endlich mal mit dir zu sprechen.« Sie schnitt eine seltsame Grimasse, doch Anna schien nicht zu begreifen, was los war. »Patrik? Nein, der ist gerade nicht zu Hause. Er und Maja wollten der Polizeidienststelle einen kleinen Besuch abstatten. Keine Ahnung, was sie anschließend vorhaben. Aha. Ach so … Doch … Sie haben bestimmt riesige Lust, morgen mit dir und Ludde spazieren zu gehen. Um zehn. Vor der Apotheke. Das richte ich ihm aus. Er kann sich ja melden, falls er bereits andere Pläne hat, aber das glaube ich nicht. Dann vielen Dank. Wir hören voneinander.«
»Wer war das denn?«, fragte Anna verblüfft. »Wer ist Karin? Und was hat Patrik morgen bei der Apotheke mit ihr vor?«
Ericasetzte sich an den Küchentisch und sagte nach einer langen Pause: »Karin – ist Patriks Exfrau. Sie und ihr
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