Engel der Kindheit
sie noch von ihm wissen wollte.
„Ja! Ich kann wirklich meine Schiffe konstruieren, das, was immer mein Kindheitstraum gewesen war! Irgendwann, wenn Sam groß genug ist, werde ich das Kapitänspatent machen, dann kann ich mit meinen Konstruktionen über den Pazifik schippern!“ Ein kleines Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.
„Es wird Zeit!“ Bedauernd sah Nils auf die Uhr. Inzwischen hatte er seinen gebratenen Speck mit Rührei, zwei Brötchen dazu und den großen Pott Kaffee geleert. Hastig trank Lena den letzten Schluck ihrer Tasse, bevor sie ihm zunickte und sich erhob. Hastig kritzelte er noch eine Telefonnummer auf einen Bierdeckel, der in der Mitte des Tisches lag. „Meine Handynummer! Nur wenn du mich mal brauchen solltest!“
„Ich werde dich nie anrufen! Das weißt du!“ Unschlüssig steckte Lena den Bierdeckel aber doch in ihre Handtasche.
Eng schlang Nils den Arm um ihre schmalen Schultern. Nur knapp über seine eigene Schulter reichte sie ihm, zog sie dicht zu sich und küsste sie verzehrend. Überall wanderten seine Hände über ihren Körper, wie gerne hätte er sie jetzt und hier geliebt. Hingebungsvoll schlang Lena die Arme um seinen Hals, ihre Hände streichelte ihn, zerwühlten sein Haar, ihr Körper presste sich an ihn, alles in ihr schrie nach seinen Berührungen.
All ihre Kraft benötigten sie, um sich voneinander zu trennen. Abgehackt und unregelmäßig ging ihr Atem. Umschlungen standen sie mitten auf den Landungsbrücken in der wärmenden Sonne, deren Strahlen sich spiegelnd auf dem Wasser der Elbe brachen. Die Wellen wurden gegen die großen Schiffsrümpfe geworfen, deren Containerladungen von meterhohen, schweren Eisenkränen an dicken Stahlseilen emporgehoben wurden, auf fahrbare, computergesteuerte Wagen verladen und zu ihrem Bestimmungsort gefahren wurden.
Zur Eile treibend zog Nils Lena mit sich, in fünfzehn Minuten musste er bei dem Notar sein. Mit ihm Schritt haltend lief sie neben ihm her, so fest hielt er sie, dass kein Windhauch zwischen ihre Körper gelangen konnte.
„Hier ist es! Möchtest du mit hoch kommen?“ Prüfend las Nils das große, weiße Schild, auf dem mit schwarzen Buchstaben der Name des Notars stand.
„Ich werde hier auf dich warten!“
Hochaufgerichtet ging Nils mit raschen, selbstsicheren Schritten die Außentreppen hinauf, die in das alte, herrschaftliche Gebäude führten.
Gemütlich setzte Lena sich auf eine niedere, aus hellem Naturstein gemauerte Mauer, verschränkte ihre schlanken Beine, stütze die Arme hinter sich ab, lehnte ihren Kopf zurück, streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und schloss die Augen. Offen und frei fiel ihr langes Haar bis an den Beginn der Mauer.
Gewaltsam versuchte sie, ihre Gedanken anzuhalten, sie würde jetzt nicht nachdenken, was weitergeschehen würde!
„Engelchen!“ Hingerissen beugte Nils sich über sie, küsste ihren leichtgeöffneten, verheißungsvollen Mund, wurde von ihren Armen umschlungen, die ihn neben sich auf die Mauer zogen. Begierig verschlossen ihre Lippen sich, all ihre Gefühle lagen in dem Kuss, der sie mit sich riss in den Strudel indem sie sich befanden.
„Lena, wir müssen zum Flughafen!“ Schweren Herzens nahm Nils ihr Gesicht zwischen seine Hände, sanft streichelten seine Daumen die zarte Haut ihrer Wangen.
Stumm nickte Lena, die Tränen, die in ihren Augen brannten, schnürten ihr die Kehle zu.
„Das Grundstück wird so schnell wie möglich verkauft werden. Das restliche Geld wird gewinnbringend in Deutschland für Sam angelegt. Zwar wird er mehr als genug Reichtümer in Australien erben, aber ich möchte meinem Sohn mein Erbe hinterlassen. Irgendwann einmal soll er Deutschland sehen! Ich weiß nicht warum, aber ich rede jetzt schon oft mit ihm in Deutsch! Obwohl ich... nie wieder... zurückkommen werde!“
Betroffen nickte Lena bei seinen Worten, und kämpfte tapfer gegen ihre grenzenlose Verzweiflung an.
„Lass uns gehen!“ Mutlos wischte Nils sich über die Augenwinkel. Schier übermenschliche Kraft kostete es ihn, zu seinem Sohn und der Verantwortung, die er übernommen hatte, zurückzukehren.
Schweigsam liefen sie durch die belebten Straßen Hamburgs zu Lenas Auto. Ziehend atmete sie ein, musste kurz stehen bleiben und ihr Asthmaspray an die Lippen setzen. Mit einem dumpfen Stoß zog sie das Medikament tief in ihre Lungen ein.
Viel zu schnell erreichten sie ihren zitronengelben VW Beatle, zitternd wie Espenlaub öffnete sie die Türe des Wagens.
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