Engel der Kindheit
Rostrotes Wasser tröpfelte im Sekundenabstand aus dem Hahn.
„Lena, lass es! Es hat keinen Wert! Wir müssen uns so anziehen!“ Angewidert wendete Nils sich ab. Alle Bilder seiner Kindheit stiegen lebendig in ihm hoch. Direkt vor sich sah er, wie er hilflos nach einem Versteck suchte, hörte die laute, lallende Stimme seines Vaters, roch den alkoholgeschwängerten Atem, die abstoßenden Ausdünstungen nach altem, vergorenem Schweiß, Dreck und Bier, duckte sich automatisch um die Schläge abzufangen, sah sich selbst zusammengekauert auf dem Boden liegen, wehrlos den Fäusten und Fußtritten ausgeliefert. Nochmals sah er seine hilflose Mutter, die die Hand vor den geöffneten Mund hielt und ihm nie geholfen hatte. Naturgetreu, wie ein Film, liefen die Bilder vor seinen Augen ab.
Raus musste er hier, musste weg, so schnell wie möglich! Feixend hatten die Gespenster seiner Vergangenheit ihn wieder eingeholt, höhnten um ihn herum, tänzelten ihren schaurig gruseligen Tanz, bei dem ihm die Hauptrolle zuteilwurde.
“Nils, Nils, nicht, es ist alles gut! Bitte Nils, so hör mir doch zu! Nils, ich bin bei dir!“ Beruhigend redete Lena auf ihn ein, schlang die Arme um ihn, streichelte ihn, doch er hörte nichts. Erstarrt stand er da, sein Blick war hölzern geradeaus gerichtet, seine Zähne fest zusammengebissen.
„Nils! Lass uns gehen, bitte!“ Angsterfüllt zog Lena ihn an der Hand zerrend in sein früheres Zimmer.
Mit staksigen Beinen folgte er ihr, schüttelte den Kopf, verzweifelt fuhr er sich über die Augen. „Ich habe alles noch einmal erlebt! Es ist noch in mir, wie wenn es gestern gewesen wäre!“ Entgeistert bedeckte er seine Augen mit den Händen.
„Lass uns gehen!“, rief Lena. Hastig schlüpfte sie in ihre Unterwäsche, zog ihr Kleid über, schüttelte kopfüber ihr Haar, warf es schwungvoll zurück. Ratlos sah sie auf ihre nackten Füße. Konnte sie so das Haus verlassen? Wohl oder übel musste sie, denn sie konnte nicht zu sich nach Hause gehen.
In abgehakten, unkoordinierten Bewegungen schlüpfte Nils in seine Kleider. Bekümmert sah Lena ihm zu, wie er seinen vernarbten Körper bedeckte und wie er durch sie hindurchsah. Sie hatte Angst um ihn! Maßlose Angst! „Nils, bitte, Nils, sieh mich an!“
In Zeitlupe wendete er den Kopf in ihre Richtung. „Lena, ich halte das nicht aus! Es bricht über mir zusammen, versucht mich einzusaugen und mit sich zu nehmen! Ich fühle mich, wie wenn ich im Moorschlamm stehen würde, der sich unter mir öffnet und mich in die Tiefe zieht... Lass uns gehen, schnell!“ Fahrig knöpfte Nils die letzten Knöpfe seines Hemdes zu, schloss seine Anzugshose, steckte seine Krawatte in die Innentasche seines Jacketts, warf es sich über die Schulter, nahm Lena an der Hand und zog sie mit sich über die knarrende, morsche Treppe, hinaus in den herrlichen Morgen, der in dem lauen Wind den Duft der Apfelblüten trug. Vor der Eingangstüre stand seine Reisetasche, die er hier gestern Abend abgestellt hatte, bevor er um das Haus herum in den Garten gelaufen war, um sofort Lena zu sehen, die in diesem Moment leichtfüßig über den Rasen zu dem kleinen Kind gerannt war.
Befreit atmete er die frische Morgenluft ein. Zögernd zwar, aber allmählich ordneten seine Gedanken sich wieder in die richtigen Bahnen ein. Gewichen war der erschreckende Albdruck von ihm. „Musst du nach Hause?“ Unglücklich sah er sie an. Nun war die Zeit des Abschiednehmens gekommen.
„Nein, ich gehe heute nicht zur Uni! Ich werde mein Staatsexamen auch so bestehen! Ich sollte mir nur kurz Schuhe holen!“ Erneut blickte Lena auf ihre nackten Füße. Unmöglich konnte sie barfuß mit Nils in die Stadt gehen. „Soll ich den Autoschlüssel mitbringen? Sonst kommst du nicht nach Hamburg!“ Im Stillen betete sie, dass nicht in diesem Moment Babs und ihrer Mutter aus dem Haus kommen würden.
„Sonst würde ich mir ein Taxi rufen, aber nichts wäre mir lieber, als von dir gefahren zu werden!“ Über den Aufschub war er unsagbar glücklich.
Spurtend rannte Lena zu der hinteren Terrasse, die zu ihrem Zimmer führte, hatte Glück, da sie leicht geöffnet war. Wie früher schlich sie sich in ihr Zimmer, zog ein Paar offene Sandalen über, nahm ihre Handtasche mit Autoschlüssel und ihr Asthmaspray, eilends rannte sie den Weg zurück, den sie gekommen war. „Ich habe ihn! Komm!“ Zur Eile drängend stand Lena vor ihrem VW Beatle. Heftig schoss ihr das Blut in die Wangen, als sie an den
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