Engel der Kindheit
ist, denn wir werden nicht heiraten! Ich werde meine Schule fertig machen, danach wird es irgendwie weitergehen!“
Weich, wie Gummi, zitterten Lenas Beine, sie ließ sich von Tanja zu einer Bank führen. Die Schulglocke läutete, alle strömten in das große, langgezogene Backsteingebäude.
„Lass uns reingehen!“ Schwerfällig erhob Lena sich, sie fühlte sich wie eine alte Frau.
„Wenn du jemanden zum Quatschen brauchst, ich bin für dich da! Ich sage auch niemandem etwas davon!“ Zuerst hob sie drei Finger zum Schwur, dann strich Tanja sich ihr schnurglattes, schulterlanges Rotblondhaar aus der Stirn. Wie gesät war ihr Gesicht über und über voll mit entzückenden kleinen, rötlichen Sommersprossen. Sie hatte eine blasse, durchschimmernde Haut und leuchtende himmelblaue Augen.
„Danke! Werde ich bestimmt brauchen!“ Auf wackeligen Beinen betrat Lena ihr Klassenzimmer, setzte sich neben Mareike und verfolgte den Unterricht unaufmerksam. Mühsam versuchte sie ihre Gedanken auf das zu konzentrieren, was Herr Weidner über die Judenverfolgung unter Hitler im Dritten Reich erzählte, aber Lenas Gedanken schweiften immer wieder ab.
Überhaupt nichts bekam sie mit von der Diskriminierung der jüdischen Mitbürger, von der Kristallnacht, als die Läden und Häuser der Juden angezündet wurden, von den Massentötungen in den Konzentrationslagern.
„Lena, sag mal, wo bist du eigentlich?“ Unsanft stupste Mareike sie an, als Lena auf das Arbeitsblatt starrte, das sie soeben ausgeteilt bekommen hatten.
„Ich glaube, ich bin noch im Urlaub!“
In abgeänderter Form schrieb Lena das auf ihr Blatt, was sie von Mareike abschrieb.
„Tschüss!“
Zum Glück war der erste Schultag vorüber und Lena konnte nach Hause gehen. So durfte es nicht weitergehen, sonst würde sie das Klassenziel der zwölften Klasse nicht erreichen. Außerdem müsste sie den Stoff vorarbeiten, da sie über die Entbindung einige Zeit versäumen würde.
Langsam tretend fuhr Lena mit dem Fahrrad an den unzähligen Apfelbäumen, die zum Teil bereits abgeerntet wurden, nach Hause.
Herzklopfend schloss sie den Briefkasten auf, eine neue Postkarte von Nils lag darin. Fest presste sie sie an ihre Brust, hauchte einen Kuss auf seine Schrift und strich mit dem Finger zärtlich darüber.
Beunruhigend schrieb er von dem furchtbaren Sturm, den sie unbeschadet überstanden hatten und wie sehr er sie liebte.
„Hallo Mama!“ Müde trat Lena in den großräumigen Flur, ihre Mutter stand in der Küche und schüttete die Nudeln in ein Sieb.
„Lena!“ Mehr brachte sie nicht über die Lippen, sie konnte ihrer Tochter nicht verzeihen, dass sie ihr Leben ruinieren würde. In ihr war ein Gefühl des Versagens, sie hatte in der Aufklärung ihrer Kinder versagt, sonst hätte Lena nicht ungeschützten Verkehr gehabt! Es war mit ihre Schuld, dass sie schwanger war. Natürlich wusste sie, dass Lena nie mit dem Gedanken fertig werden würde, ein Kind abgetrieben zu haben, dafür war sie viel zu mitfühlend und weichherzig, aber sie hätte sich vorher überlegen sollen, was sie tun würde!
„Mama, meinst du nicht, wir könnten wieder normal miteinander umgehen? So hat es doch keinen Zweck oder möchtest du, dass ich ausziehe?“ Todernst brachte Lena die Worte über die Lippen, die sie selbst schmerzten.
Entsetzt sah ihre Mutter bei Lenas Worten auf. „Auf gar keinen Fall!“ Verstohlen wischte Sonja sich eine Träne aus den Augenwinkeln. „Ich... ich... wenn du doch nur vorher etwas unternommen hättest! Wie soll es denn weitergehen? Ein Baby ist ein Fulltimejob! Du kannst es nicht neben dem Lernen oder neben dem Studium versorgen! Wer kümmert sich um das Kleine, wenn du nicht da bist? Und wer nimmt dich, mit einem kleinen Kind?“ Zitternd setzte Sonja sich auf den fahrbaren, höhenverstellbaren Hocker, der neben ihr stand. Endlich brachen die aufgestauten Tränen durch den Damm, den sie in ihrem Inneren errichtet hatte. Aufschluchzend barg sie ihr Gesicht in ihren Händen.
Beruhigend trat Lena zu ihr, legte die Arme um ihre Mutter, streichelte ihr über das kinnlange, blonde Haar, das ebenso widerspenstig, wie ihr eigenes war.
Stumm wartete sie ab, bis die Tränen ihrer Mutter versiegten.
„Ich wollte dich fragen, ob du dich nicht um das Kleine kümmern kannst? Schließlich bist du doch noch jung und hast uns auch mit viel Liebe großgezogen! Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber nachmittags wäre ich dann hier und würde nach dem Baby
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