Engel der Kindheit
in die Augen, sie setzte sich an ihren Schreibtisch, nahm ihr zartrosafarbenes Briefpapier zur Hand und schrieb Nils, wie sehr auch sie ihn liebte. Ihrem Brief legte sie ein gepresstes Veilchen in der Farbe ihrer Augen und ein herzförmiges Veilchenblatt bei. Ein klein wenig ihres Parfüms sprühte sie über den Briefbogen.
Von ihrer kleinen Tochter, die zufrieden neben ihr lag und an ihrer kleinen Faust nuckelte, schrieb sie ihm nichts
Bevor Lena zur Schule ging, stillte sie ihre kleine `Babs´, wie sie ihr Töchterchen zärtlich nannte. Liebevoll sorgte Sonja am Vormittag für ihr Enkelkind. Sobald Lena aus der Schule kam, übernahm sie alle Pflichten einer verantwortungsbewussten Mutter.
Wenn Babs ihr die Ärmchen entgegenstreckte und quietschend mit ihren Armen und Beinen beim Wickeln strampelte oder ihr langes Haar mit ihren niedlichen kleinen Fingern ergriff und daran zog, blühte sie regelrecht auf. Wirr standen Babs kurze, blonde Fransen um ihr rundes Köpfchen. Die Pausbacken waren stets leicht gerötet, ihr kleiner Mund schmatzte an allem, was sie ergreifen konnte. Babs hatte die tiefblauen, mit einem dunklen Kreis umrundeten Augen und der weiß gesprenkelten Iris ihres Vaters geerbt.
Nachdem Babs gestillt und gewickelt war, legte Lena sie neben sich in die kleine Wiege, in der Philipp und sie schon gelegen hatten und arbeitete an ihren Schularbeiten.
Jedes Mal, wenn Babs weinte, kümmerte sie sich um ihre kleine Tochter.
Meist gegen Abend legte Lena sie in den Kinderwagen und sie spazierten durch die blühenden Obstplantagen. Vor die frisch gesprossenen, hellgrünen Blätter schoben sich tausend zartrosa Blüten. Es schien, wie wenn die ganze Landschaft um sie herum zu neuem Leben erwachte. Bienen summten emsig, und mit gelben Pollen beladen, durch die laue Nachmittagsluft. Wunderschön und romantisch war es durch das Alte Land zu gehen, die gerichteten Fachwerkhäuser zu bestaunen, an denen die Hausbesitzer die notwendigen Reparaturen bei dem anhaltend schönen Wetter ausführten.
Problemlos bestand Lena die zwölfte Klasse. Still feierte sie mit ihren Eltern und Babs ihren achtzehnten Geburtstag auf der Terrasse hinter ihrem Haus.
Von ihren Klassenkameraden, deren Interessen sich von ihren unterschieden, hatte sie sich weitgehend zurückgezogen. Lediglich Tanja, aus ihrer Parallelklasse, kam an manchen Nachmittagen und spazierte mit ihr über die Felder.
Genau ein Jahr war es her, seit Nils gegangen war.
Frau Keller hatte den Verlust ihres Sohnes nicht überwunden. Gebeugt schritt sie über die ungemähte Sommerwiese, verwirrt rief sie nach ihrem Sohn. Damals hatte Nils ihr einen Brief hinterlassen, seither hatte er sich nie wieder bei seiner Mutter gemeldet.
Dass sie ihn nicht zu seiner Abschlussfeier begleitet hatte, hatte er ihr nie verziehen. Besorgt um den gewalttätigen Vater, der nach dem Herzinfarkt aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie sich geweigert, Nils zu begleiten. Jahrelang hatte sie stumm zugesehen, wenn ihr Mann Nils verprügelt hatte.
Somit hatte Nils sich nicht nur von seinem Vater getrennt, sondern auch von der feigen Mutter, die nicht zu ihm gehalten hatte.
Mitfühlend blickte Lena zu der gebeugten alten Frau, deren Enkelkind sie, auf ihrem Schoß geborgen, in den Armen hielt.
„Wissen Sie nicht, wo mein Sohn ist? Er muss doch zum Essen kommen! Bitte, helfen Sie mir suchen, ich kann ihn nirgends finden! Er verhungert doch!“ Mehrmals am Tag irrte sie an den baufälligen Zaun, trat an das niedere Tor, schüttelte die wirren, ungepflegten Haare, sah in den Schuppen, rief nach Nils und wanderte zurück zum Haus.
Es hatte keinen Zweck ihr zu erklären, dass Nils nicht wiederkommen würde, sie verstand es nicht.
Nils Vater war bettlägerig. Der Herzinfarkt hatte ihn geschwächt, morgens und abends kam eine Gemeindeschwester, die ihn versorgte. Seitdem bekam er keinen Tropfen Alkohol mehr und starrte den ganzen Tag an die Zimmerdecke. Niemand wusste, welche Gedanken hinter seiner Stirn kreisten.
„Du bist volljährig und hast bereits eine kleine Tochter, wer hätte das vor einem Jahr gedacht?“ Gut erinnerte sich Georg an seine schöne Tochter, die ihm vor einem Jahr im langen Abendkleid so bezaubernd vorgekommen war.
„Ja, und ich danke euch, dass ihr mir geholfen habt!“ Von ihrem Vater lächelte Lena zu ihrer Mutter. Etwas Glanz war in ihre veilchenblauen Augen zurückgekehrt, ein ständiger dunkler Schatten hatte sich darin aber fest
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