Engel der Kindheit
sehen! Sonst müssten wir eine Kinderfrau anstellen, aber nur ungern würde ich das Kind einer fremden Frau überlassen!“ Ernst blickte Lena in die Augen ihrer Mutter, die beinahe violettblau, wie ihre eigenen waren, aber jetzt eher hart und verbittert zu ihr blickten.
„Ich kann es dir noch nicht sagen! ... Aber jetzt, lass uns essen!“ Die Spuren der Tränen wischte Sonja von ihrem noch immer schönen Gesicht und trug die Nudelplatte zum Esszimmer. Wie immer nahm Lena die Glasschale mit Gemüse und setzte sich an den Tisch, während ihre Mutter noch das Fleisch für ihren Vater und sich holte.
Der Bund ihrer Hosen wurde zu eng, ihre Kleider vertuschten unter den weiten Röcken noch eine Zeitlang ihren dicker werdenden Bauch, doch Ende Oktober konnte sie nicht mehr verheimlichen, dass sie schwanger war.
„Sag mal, isst du gerade so viel oder was ist los mit dir?“ In ihrem Blick eine Mischung aus Ekel und Sensationslust, starrte Mareike auf ihren Bauch, den Lena unter einem weiten Pullover versteckte, den sie über einem geblümten, schwingenden Rock trug.
„Willst du es ehrlich wissen?“ Gespannt wartete Lena das Nicken ihrer Freundin ab, sie spürte, wie sich die Köpfe ihrer anderen Mitschüler zu ihr umdrehten, die Gespräche wurden schlagartig unterbrochen, jeder lauschte auf Lenas Worte.
„Ich bin schwanger!“ Aufrecht, die Schultern nach hinten gedrückt, stand sie da und wartete, wie ihrer Mitschüler reagieren würden.
„Du hast doch gar keinen Freund oder habe ich da etwas nicht mitbekommen?“, fuhr Mareike die Freundin in scharfem Ton an.
„Stimmt! Ich bin trotzdem schwanger! Man muss nicht monatelang mit jemand zusammen sein, nur um ein Kind zu bekommen!“ Selbstbewusst stand Lena in dem Kreis, der sich um sie gebildet hatte.
„Warum bekommst du das Kind? Aber, vergiss es, die Frage erübrigt sich wohl bei dir!“ Jörg, der schon immer heimlich ein Auge auf Lena geworfen hatte, traf ihre Enthüllung schwer. Nie hatte er die kleinste Chance bei ihr gehabt und nun bekam sie ein Kind! Jeder wusste, wie Lena mit den winzigsten Lebewesen umging, so dass es nicht verwunderlich war, dass sie sich dafür entschieden hatte, das Kind auszutragen.
„Wie machst du das, wenn das Kind auf der Welt ist?“
„Wirst du studieren können?“
„Meinst du, du schaffst die zwölfte Klasse?“
„Was sagen deine Eltern dazu?“
„Wer ist der Vater?“
„Was für ein Gefühl ist das?“
Plötzlich redeten alle durcheinander, stellten Lena hunderte Fragen, die sie alle beantwortete, außer der Frage nach dem Vater des Kindes.
Immer noch verbrachte sie ihre Nachmittage in der Praxis ihres Vaters, wenn sie damit fertig war, lief sie über ihre geliebten Felder und fand ihre innere Ruhe wieder.
Vor kurzem hatte ihre Mutter sich bereit erklärt, ihr Kind zu hüten, solange sie ihre Schule und das anschließende Studium absolvieren würde.
Über zwanzig Postkarten hatte sie von Nils erhalten, er beteuerte ihr, wie sehr er sie vermisste und liebte. Jede seiner Karten gab ihr Mut und Kraft.
Die Erlaubnis ihres Rektors hatte Lena erhalten, trotz dem Mutterschutz den Unterricht zu besuchen. Unaufhaltsam rückte der errechnete Geburtstermin näher, ihr Bauch war weiter gedehnt, als sie es sich je vorgestellt hatte. Dennoch lief sie anmutig und leichtfüßig über den Schulhof. Anfänglich verwunderte Blicke der anderen Klassen hatte sich gelegt. Wie ein Lauffeuer hatte sich damals die Neuigkeit in der gesamten Schule verbreitet.
Seit heute Nacht hatte sie ein ungutes Ziehen in ihrem Rücken. In der Pause massierte Lena sich mit einer Hand ihre schmerzende Wirbelsäule, als sie ein festes Ziehen über ihren Bauch spürte, der sich über ihrem Kind zusammenpresste.
Etwa eine Minute dauerte der Schmerz an, danach war sie wieder in der Lage, normal durchzuatmen.
Auf dem Heizkörper, in dem großen Flur vor ihrem Klassenzimmer, saß sie, als nach fünf Minuten erneut ihr Bauch zusammengepresst wurde.
Die Schulglocke läutete, doch Lena konnte während der Wehe nicht aufstehen, um das Klassenzimmer zu betreten.
Frau Richter, ihre Englischlehrerin, die die nächste Stunde in ihrer Klasse unterrichtete, kam schnellen Schrittes, die schmale Ledertasche unter den Arm geklemmt, aus dem Lehrerzimmer auf Lena zu.
„Geht es los?“ Schon von weitem sah sie das schmerzverzerrte Gesicht ihrer Schülerin, die sie einerseits bewunderte, andererseits aber nicht verstand, weshalb sie sich das Leben so schwer
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