Engel der Kindheit
er jetzt richtig verdienen würde und nicht nur mit einem Hungerlohn abgespeist werden würde, könnte er sich nach einer geeigneten Wohnung umsehen, in der sie zusammen leben konnten. Seit eineinhalb Jahren studierte Lena Veterinärmedizin. In Sydney hatte sie sich bereits nach einem Studienplatz erkundigt. Problemlos könnte sie sogar während des laufenden Semesters wechseln.
Schonend hatte sie ihm mitgeteilt, dass seine Mutter verstorben war. Warum? Warum war seine Mutter gestorben, während sein brutaler Vater noch lebte?
Nahezu drei Jahre war er nun schon in Australien! Vor nicht ganz dreieinhalb Jahren hatte er Lena das letzte Mal gesehen und ihre Briefe waren voller Sehnsucht, ebenso wie seine eigenen. Unzählige Veilchen und herzförmige Blätter befanden sich in seinem Schuhkarton mit ihren Liebesbriefen, während Lena sicherlich alle außergewöhnlichen Federn sammelte, die er ihr mit seinen sehnsuchtsvollen Briefen mitgeschickt hatte.
So, mit diesem Knoten würde er zur Villa der Rodneys gehen! Sven und Alison waren nicht eingeladen! Sie gehörten zur Arbeitergruppe, die von Samuel Rodney nicht beachtet wurde. Bereits seit einem halben Jahr studierte Alison Schiffsbau, sie hatte sich erfolgreich gegen ihren Vater durchgesetzt, Sven war Vorarbeiter in der Werft geworden und leitete eine Gruppe Arbeiter, die den Innenausbau der Jachten übernahm.
Wenn Alison ihr Studium beendet hatte, wollten sie zusammenziehen, heiraten und Kinder bekommen. Durch die Liebe, die Alison ihm schenkte, hatte Sven die Schrecken seiner Kindheit überwunden.
Drei Jahre lang hatten sie nun ohne Unterbrechung gearbeitet. Keinen einzigen Tag hatte sie frei gehabt, an Urlaub war überhaupt nicht zu denken gewesen.
Widerwillig zog er das anthrazitfarbene Jackett über, da es ein lauer, warmer Sommerabend in Australien war und er viel lieber über den Strand gelaufen wäre, anstatt zu den Rodneys zu fahren.
Ein Taxi brachte ihn durch die gewundene Küstenstraße zu der eindrucksvollen Villa der Rodneys. Vollkommen aus Glas gebaut, schmiegte sich das Gebäude in den kargen Felsen, war zwischen wuchtigen, belaubten Eukalyptusbäumen geschützt vor den Blicken der Vorüberfahrenden.
Noch ein Mal überprüfte Nils den Sitz seines Anzuges, kontrollierte die Krawatte, bevor er über die Marmorstufen dem Hauseingang entgegen schritt.
An einem Messingknopf betätigte er die Klingel, die sein Kommen ankündigte.
In livrierter Uniform öffnete ihm ein Diener, bat um seine Einladung und geleitete ihn in den pompösen Vorraum, der durch Kristalllüster beleuchtet war. Das bereits gebrochene Licht spiegelte sich in dem glänzenden Marmorboden, wertvolle Gemälde lenkten die Blicke des Betrachters auf die reichhaltige, überladene Schönheit dieses Raumes, indem sich Nils vollkommen fehl am Platz vorkam.
Hochaufgerichtet trat Marie-Luise durch die geöffnete Salontüre auf ihn zu, stolz schritt sie selbstsicher über den blanken Boden. Keine Regung, nicht den Ansatz einer Empfindung spiegelte sich in ihrem glatten, unnatürlich faltenfreien und maskenhaft wirkenden Gesicht. Ein karmesinrotes, aufwendig gearbeitetes, bodenlanges Abendkleid verhüllte wenig ihren reizvollen, gertenschlanken Körper. Vollendet war ihr rabenschwarzes Kurzhaar in Form gebracht, war verwegen drapiert worden, um die richtige Wirkung zu erzielen. Einzelne Strähnen umspielten ihre hohen, mit schattierendem Rouge betonten Wangenknochen. Voll und verführerisch schimmerten ihre Lippen in dem gleichen intensiven Rot, wie ihr sündhaftes Kleid, das den Blick auf ihr überwältigendes Dekolletee lenkte.
Direkt hinter ihr folgte ihr Vater, der sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. Sein strenges Adlergesicht erhellte sich, als er Nils in korrekter Kleidung erblickte.
„Nils! Es freut mich, Sie in meinem Hause begrüßen zu dürfen! Meine Tochter Marie-Luise kennen Sie bereits! Sie wird Ihre Tischdame für den heutigen Abend sein!“ Fast kumpelhaft reichte Samuel Rodney Nils die Hand, begrüßte ihn, wie einen alten Bekannten. Insgeheim wunderte Nils sich sehr darüber, da er nie ein persönliches Wort mit seinem Arbeitgeber gewechselt hatte. Nun sollte er seine eiskalte Tochter als Tischdame den ganzen Abend unterhalten. Beim besten Willen konnte Nils sich nicht vorstellen, was er mit diesem puppenhaften, zu Eis erstarrten Geschöpf reden sollte. Aber schließlich war er hier, um andere wichtige Persönlichkeiten kennen zu lernen.
„Guten
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