Engel der Kindheit
Tag, Nils!“ Graziös reichte Marie-Luise ihm die Hand zum Handkuss. Nils, der nie zuvor eine Dame mit einem Handkuss begrüßt hatte, neigte den Kopf und deutete den Kuss an. Dabei achtete er darauf, dass er nicht den blassen, an zerbrechliches Porzellan erinnernden, durchschimmernden Handrücken berührte.
Unverhohlen bewunderte Marie-Luise seine Erscheinung. Dreist ließ sie ihre Augen über sein hartes, kantiges Gesicht wandern. Eher abfällig blickten dessen beeindruckende, engzusammenstehende und tiefblaue, mit weißen Punkten durchzogene Augen, unter dichten Augenbrauen. Etwas piratenhaft Verwegenes verlieh ihm die gebogene Nase, erinnerte an die Geschichten der alten Seeräuber, ebenso wie sein eingekerbtes kantiges Kinn und der feste, eckige Unterkiefer. Sinnliche Lippen verbargen eine Reihe weißer, übereinanderstehender Zähne, die kaum sichtbar wurden, da er selten lächelte. Meist blickte er ernst, überlegend und beobachtete alles mit den gefährlich blitzenden Wolfsaugen, die sie in ihren Bann zogen.
Besitzergreifend ergriff Marie-Luise seinen Arm, hängte sich bei ihm ein, den anderen Arm ebenfalls um seinen Ellenbogen schlingend und führte ihn in den überwältigenden Ballsaal. So etwas Prunkvolles hatte Nils nie zuvor in seinem Leben gesehen. Rundherum waren alle Wände verspiegelt, unzählige Kristalllüster leuchteten von der Decke. Ihr Licht brach sich wie in geschliffenen Diamanten, lenkten es zu dem auf Hochglanz polierten Steinboden, der schimmerte, wie frisch abgeschliffenes Eis. Ellenlange Tafeln, mit bis auf den Boden reichenden Damasttischtüchern, waren eingedeckt mit zerbrechlichem, hauchfeinem Porzellan, zwischen antikem, poliertem Silber. Geschwungene, altenglische Stühle, luden zum Platznehmen ein. Kristallgläser fingen die Lichtstrahlen auf und warfen sie weiter auf die aufwendige, exotische Tischdekoration, die in Grundtönen von sonnengelben und karibikblauen Blüten in verschwenderischer Pracht gesteckt waren.
Wenn er die Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte, hätte Nils sie ergriffen. Ganz deutlich spürte er, dass er hier nicht hergehörte. Das hier war nicht sein Raum, in dem er sich wohlfühlen konnte. Erstickend atmete er den aufdringlichen, schweren Duft von Marie-Luise an seiner Seite ein, der sie wie in dichten Nebel gehüllt umschloss.
Niemals in all den Jahren hatte er sich so sehr nach Lenas erfrischender Herzlichkeit, ihrer grazilen Anmut und ihrem warmen Lächeln gesehnt, wie gerade jetzt. Sehnend wünschte er sie sich an seine Seite, mit ihr zusammen könnte er diesen Abend überstehen.
Meisterhaft führte Marie-Luise ihn zu einer Gruppe Herren, die angeregt über die Politik des Landes diskutierten. Ein Kellner bot, auf einem silbernen Tablett, gefüllte Champagnergläser an, Marie-Luise reichte Nils eines der perlenden Kristallflöten und nahm ebenfalls eines in ihre freie Hand.
„Meine Herren, darf ich Ihnen die erfolgversprechendste Entdeckung meines Vaters vorstellen? Nils Keller, soeben sein Studium für Schiffsbau absolviert, wird in Zukunft maßgeblich an der Konstruktion unserer Schiffe beteiligt sein. Seine Ideen sind bahnbrechend und er wird sie unserer Werft zur Verfügung stellen!“ Gezielt lächelte Marie-Luise die Herren an, sehr darauf bedacht, die richtige Wirkung ihrer Worte mit ihrer vollendeten Gestik zu unterstreichen.
Verstimmt zogen sich Nils Augenbrauen zusammen. Stechend blickten seine Augen zu Marie-Luise. So hatte er es noch nicht gesehen. Bisher kam er sich nicht wie eine Entdeckung Samuel Rodneys vor, sondern eher wie ein billiger Arbeiter, der sich nicht wehren konnte, und das Verlangte bedingungslos ausführen musste.
„Ah, Herr Keller, sehr erfreut!“ Die Herren begrüßten ihn alle distinguiert, verneigten sich vor ihm, während Marie-Luise die Namen nannte. Es waren bedeutende Persönlichkeiten der Politik, Eigentümer anderer Werften und der Polizeichef von Sydney.
Etwas verloren stand Nils, mit Marie-Luise an seinem Arm, in der Gruppe der Herren und beteiligte sich nach einiger Zeit an den Gesprächen. Deutlich sagte er seine Meinung zu einigen Entwicklungen in Australien, die er momentan nicht nachvollziehen konnte, über den florierenden Schiffsbau, der durchaus entwicklungsfähig war, die Handelsmarine die seiner Ansicht nach nicht gewinnbringend fuhr und über die Fusionierung verschiedener großer Unternehmen, die Arbeitsplätze kosteten.
Erfreut, neue Ansichten als Grundlage neuer Diskussion geliefert zu
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