Engel Der Nacht
ich.
»Kotz-Granny-Smith-Grün. Glaub ich.«
In diesem Augenblick kam Marcie Millar zu uns herüber und setzte sich auf die Kante unseres Tisches. Sie war die einzige Zehntklässlerin in der Geschichte der Coldwater High, die jemals in einer Universitätsmannschaft Cheerleading gemacht hatte. Ihr erdbeerblondes Haar war in lange Zöpfe gekämmt, und wie immer war ihre Haut mit einer halben Flasche Make-up versiegelt. Ich denke, die Menge war ziemlich genau geschätzt, denn von ihren Sommersprossen war keine Spur zu sehen. Seit der siebten Klasse hatte ich keine einzige von Marcies Sommersprossen mehr gesehen; es war dasselbe Jahr gewesen, in dem sie Mary Kay entdeckt hatte. Zwischen dem Saum ihres Rockes und dem Beginn ihrer Unterwäsche klaffte ein Abstand von etwa zwei Zentimetern - wenn sie denn überhaupt welche trug.
»Hi, Übergröße«, sagte Marcie zu Vee.
»Hi, Freakshow«, gab Vee zurück.
»Meine Mom sucht für dieses Wochenende noch nach Models. Sie zahlen neun Dollar pro Stunde. Ich dachte, das interessiert dich vielleicht.«
Marcies Mutter leitete das örtliche JCPenney-Kaufhaus, und an den Wochenenden ließ sie Marcie und die anderen Cheerleader Bikinis in den Schaufenstern vorführen.
»Es ist echt schwierig, Models für Unterwäsche in Übergrößen zu finden«, sagte Marcie.
»Du hast Essensreste zwischen den Zähnen«, erklärte Vee Marcie. »In der Lücke zwischen deinen Schneidezähnen. Sieht aus wie Abführschokolade.«
Marcie leckte sich über die Zähne und glitt vom Tisch. Während sie davonstolzierte, steckte sich Vee einen Finger in den Mund und tat, als müsste sie sich übergeben.
»Sie hat Glück, dass wir in der Bibliothek sind«, erklärte Vee. »Sie hat Glück, dass sie mir nicht in einer dunklen Seitengasse über den Weg gelaufen ist. Letzte Chance - willst du ein paar Apfelchips?«
»Nee danke.«
Vee ging los, um die Chips wegzuwerfen. Ein paar Minuten später kam sie mit einem Liebesroman zurück. Sie setzte sich neben mich und sagte, während sie mir den Umschlag des Romans zeigte: »Das sind wir eines Tages. Verführt von halbnackten Cowboys. Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, sonnenverbrannte, dreckverkrustete Lippen zu küssen.«
»Schmutzig«, murmelte ich, während ich weitertippte.
»Wo wir gerade von schmutzig reden«, sagte sie plötzlich. »Da ist unser Junge.«
Ich hörte lange genug auf zu tippen, um über meinen Laptop hinwegzuschielen, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Patch stand auf der anderen Seite des Saales in der Ausgangsschlange. Als hätte er gespürt, dass ich ihn anschaute, drehte er sich um. Unsere Blicke trafen sich und hielten einander für ein, zwei, drei Sekunden. Ich sah zuerst weg, aber erst in dem Moment, als er langsam zu grinsen begann.
Mein Herz schlug völlig unkontrolliert, und ich ermahnte mich, dass ich mich zusammenreißen musste. Darauf würde ich mich nicht einlassen. Nicht mit Patch. Nicht, solange ich noch einigermaßen bei Sinnen war.
»Gehen wir«, sagte ich zu Vee. Ich klappte meinen Laptop zu und verstaute ihn in seiner Tragetasche. Als ich meine Bücher hastig in den Rucksack schob, fielen dabei ein paar zu Boden.
Vee erklärte gerade: »Ich versuche zu lesen, wie das Buch heißt, das er da in der Hand hat … warte mal … ›Stalking für Anfänger‹.«
»Damit steht er nicht an der Ausleihe.« Doch sicher war ich nicht.
»Entweder das, oder ›Wie man unabsichtlich Sex verströmt‹.«
»Schschsch«, zischte ich.
»Beruhige dich, er kann uns nicht hören. Er spricht mit der Bibliothekarin. Jetzt geht er raus.«
Als ich das mit einem raschen Blick zur anderen Seite überprüfte, wurde mir klar, dass wir wahrscheinlich am Ausgang mit ihm zusammenstoßen würden, wenn wir jetzt hinausgingen.
»Findest du es unheimlich, dass er zur selben Zeit hier ist wie wir?«, fragte Vee.
»Du?«
»Ich glaube, er folgt dir.«
»Ich glaube, es ist ein Zufall.« Das stimmte nicht ganz. Wenn ich eine Liste der Plätze hätte zusammenstellen sollen, an denen ich Patch an einem beliebigen Abend erwarten würde, dann würde es die Bibliothek garantiert nicht darauf schaffen. Die Bibliothek würde es nicht mal unter die ersten hundert Plätze schaffen. Was also machte er hier?
Nach allem, was letzte Nacht passiert war, empfand ich die Frage als besonders beunruhigend. Ich hatte es Vee nicht erzählt, weil ich hoffte, dass es in meiner Erinnerung einfach zusammenschrumpfen würde, bis es nicht mehr existierte.
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