Engel Der Nacht
unwohl fühle.«
Coach lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. »Mir gefällt der Sitzplan. Fast genauso sehr wie dieses neue Eins-zu-eins-Spiel, an dem ich für Samstag arbeite.«
Ich legte eine Kopie des Verhaltenskodex’ der Schule auf den Tisch und darauf noch die Schülerrechte. »Per Gesetz sollte kein Schüler sich auf dem Grund und Boden der Schule bedroht fühlen müssen.«
»Sie fühlen sich bedroht?«
»Ich fühle mich unwohl. Und ich möchte eine Lösung
vorschlagen.« Als Coach mich nicht unterbrach, holte ich mutig Luft. »Ich werde irgendeinem beliebigen Schüler aus einer Ihrer Biologie-Klassen Nachhilfe geben, wenn Sie mich wieder neben Vee setzen.«
»Patch könnte einen Tutor gebrauchen.«
Ich widerstand der Versuchung, mit den Zähnen zu knirschen. »Das ist nicht Sinn der Sache.«
»Haben Sie ihn heute gesehen? Er hat sich beteiligt. Ich habe ihn das ganze Jahr nicht ein Wort sagen hören, aber dann habe ich ihn neben Sie gesetzt und - bingo. Seine Note hier in diesem Kurs wird sich verbessern.«
»Und Vees wird schlechter.«
»Das passiert eben, wenn man nicht mehr zum Nachbarn schielen kann für die richtige Antwort«, sagte er trocken.
»Vees Problem ist, dass sie nicht fleißig genug ist. Ich werde ihr helfen.«
»Da ist nichts zu machen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr und sagte: »Ich komme zu spät zu einem Termin. Sind wir fertig?«
Ich zermarterte mein Hirn auf der Suche nach einem weiteren Argument, aber es schien, als wäre mir jegliche Inspiration verloren gegangen.
»Geben wir dem Sitzplan ein paar Wochen Zeit. Oh, und ich meinte das ernst, dass Sie Patch betreuen sollten. Ich verlasse mich auf Sie.« Coach wartete meine Antwort nicht ab; er pfiff leise die Melodie von Jeopardy vor sich hin und verduftete zur Tür hinaus.
Gegen sieben Uhr hatte sich der Himmel zu einem Tintenblau verdunkelt, und ich zog den Reißverschluss an meinem Mantel hoch, damit mir wärmer wurde. Vee und ich hatten gerade ›Das Opfer‹ gesehen und waren auf dem Weg vom Kino zum Parkplatz. Es war mein Job, für die eZine Filmkritiken
zu schreiben, und da ich schon alle anderen Filme, die gerade in dem Kino liefen, gesehen hatte, hatten wir uns unserem Schicksal ergeben und uns den letzten urbanen Gruselthriller angesehen.
»Das«, sagte Vee, »war der abgefahrenste Film, den ich je gesehen habe. Okay, neue Regel: Wir sehen uns nichts mehr an, was auch nur von weitem nach Horror aussieht.«
Sollte mir recht sein. Wenn man bedachte, dass sich letzte Nacht jemand vor meinem Schlafzimmerfenster herumgetrieben hatte und ich dann noch heute Abend einen ausgewachsenen Stalkerfilm gesehen hatte, war es eigentlich kein Wunder, dass ich allmählich paranoid wurde.
»Kannst du dir das vorstellen?«, fragte Vee. »Da lebt man sein ganzes Leben, ohne auch nur zu ahnen, dass es nur einen einzigen Grund gibt, warum man noch am Leben ist: weil man als Opfer gebraucht werden soll?«
Wir schauderten beide.
»Und was war mit diesem Altar los?«, fuhr sie fort, vollkommen unberührt von der Tatsache, dass ich lieber über den Entwicklungszyklus irgendwelcher Pilze gesprochen hätte als über den Film. »Warum hat der Böse diesen Stein angezündet, bevor er sie runtergezogen hat? Als ich das Fleisch zischen gehört habe …«
»Okay!« Ich brüllte beinahe. »Wohin gehen wir jetzt?«
»Und ich muss sagen, wenn mich jemals ein Typ so küsst, dann fang ich an zu kotzen. Ekelhaft beschreibt ja nicht mal ansatzweise, was der mit seinem Mund gemacht hat. Das war Make-up, oder? Ich meine, niemand hat doch so was in echt …«
»Meine Kritik muss bis Mitternacht fertig sein«, fiel ich ihr ins Wort.
»Oh. Stimmt. Also gehen wir in die Bibliothek?« Vee schloss die Türen ihres pinkfarbenen Dodge Neon auf, Baujahr
1995. »Du bist momentan wirklich schrecklich empfindlich, weißt du.«
Ich glitt auf den Beifahrersitz. »Der Film ist schuld.« Der Spanner an meinem Fenster letzte Nacht war schuld.
»Ich rede nicht nur von heute Abend«, sagte sie mit einem schelmischen Zug um den Mund. »Mir ist aufgefallen, dass du in den letzten zwei Tagen in der letzten halben Stunde von Bio auch ziemlich geladen warst.«
»Genauso leicht. Patch ist schuld.«
Vees Augen wanderten zum Rückspiegel. Sie verstellte ihn so, dass sie einen besseren Blick auf ihre Zähne werfen konnte, leckte mit der Zunge darüber und lächelte routiniert. »Ich muss zugeben, seine dunkle Seite
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