Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
passieren, wenn
man jemanden zur Ader lässt?«
»Nichts«, spöttelte Melusine und ließ sich von
ihrer Gehilfin das Messer aushändigen, mit dem sie die Adern eines schon recht betagten
Pferdehändlers hatte öffnen wollen. Letzterer war mindestens ebenso sehr überrascht
wie die Magd und glotzte Melusine mit großen Augen an. »Es sei denn, der Patient
verliert zu viel Blut.«
»Wisst Ihr vielleicht etwas Besseres?«
»Etwas Besseres, als meine Patienten zur Ader
zu lassen, ihnen vorgewärmte Schröpfköpfe aufzusetzen oder ihnen mit dem Beil auf
den Leib zu rücken, um brandige Gliedmaßen zu amputieren? Als um himmlischen Beistand
zu bitten, damit meine Bemühungen die gewünschte Wirkung erzielen? Hand aufs Herz,
Meister Creglinger: Findet Ihr nicht, dass es Heilmethoden gibt, auf die wir verzichten
können? Schon allein deshalb, weil sie nichts als Schaden anrichten?«
»So zum Beispiel?«
»Aderlässe, Herr Spitalmeister. Venen öffnen,
um schlechtes Blut zu entfernen oder das Ungleichgewicht der Körpersäfte zu beseitigen
– der größte Unfug, seit es Ärzte gibt. Fast so unsinnig wie die Vorstellung, man
könne Kranke mithilfe von Schröpfköpfen heilen.« Während sie die Spitalmagd mit
einer unwirschen Kopfbewegung entließ, glitt ein resigniertes Lächeln über Melusines
Gesicht. »Reinigung der Körpersäfte, dass ich nicht lache.«
»Haltet Ihr Euch für so klug, Jungfer, um Euch
diesbezüglich ein Urteil erlauben zu können?«
»Klug oder nicht – ich lerne dazu.«
»Tatsächlich? Wie denn?«
»Indem ich alles hinterfrage, was man mir glauben
machen will. Indem ich mir meine eigenen Gedanken mache, vor allem, was das Wohlergehen
meiner Patienten angeht. Und indem ich mich von der Meinung sogenannter Autoritäten
nicht beeindrucken lasse.«
»Geistliche Autoritäten mit eingeschlossen?«
»Ach, daher weht der Wind.« Auge in Auge mit
ihrem Kontrahenten, winkelte Melusine die Arme an und durchbohrte ihn förmlich mit
ihrem Blick. »Damit wir uns richtig verstehen, Spitalmeister: An Hokuspokus, schwarzer
Magie oder Beschwörungsformeln bin ich nicht interessiert. Das müsstet Ihr eigentlich
wissen. Sondern einzig und allein am Wohlergehen meiner Patienten, welches für mich
an oberster Stelle steht. Um auch nur einen dieser armen Teufel zu retten, würde
ich durch die Hölle gehen. Darauf gebe ich Euch mein Wort.«
»›Durch die Hölle‹, so, so. Interessante Formulierung.«
Mit der Geduld am Ende, ließ Melusine ihrem
Zorn freien Lauf. Auf die Gebote der Höflichkeit, den Rang ihres Widersachers oder
Sitte und Anstand würde sie jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Egal, ob sie sich
Scherereien einhandeln würde oder nicht. »Jetzt hört mir mal gut zu, Ratsherr!«,
begann sie, »und schreibt Euch das, was ich jetzt sage, hinter die Ohren. Falls
Euch die Art, wie ich mit meinen Patienten umgehe, nicht behagt, lasst es mich wissen.
Am besten gleich. Ansonsten würde ich Euch bitten, nach Möglichkeit keine weiteren
Fragen zu stellen und Euch nicht andauernd in Dinge einzumischen, von denen Ihr
nichts …«
»Herrin, Herrin – Ihr müsst kommen, und zwar
schnell!« Es war eine der Bademägde, welche den drohenden Eklat verhinderte, nicht
etwa Melusines Besonnenheit, von der ohnehin nicht mehr viel übrig war. »Es ist
etwas Schreckliches geschehen!«
»Was denn, Ida?«
Ohne Creglinger zu beachten, stürmte die kaum
dem Kindesalter entwachsene Bademagd in den Krankensaal, packte Melusine am Handgelenk
und zog sie mit sich fort. Melusine ließ es geschehen und folgte ihr auf dem Fuße.
»Etwas Schreckliches!«, wiederholte der pausbäckige Blondschopf, nachdem die Pforte
des Krankensaales hinter seiner Herrin ins Schloss gefallen und eine Antwort auf
deren Frage nicht mehr zu umgehen war. »Stellt Euch vor, die … die Frau Eures Herrn
Vaters ist ermordet worden!«
*
»Geh nur voraus, Ida – ich komme gleich nach.« Endlich wieder an der
frischen Luft, blieb Melusine stehen und atmete tief durch. Außer einem Schwein,
das über den schneebedeckten Spitalhof trottete, war niemand zu sehen, ein Umstand,
der ihr sehr gelegen kam. So sehr sie die Frau, welche ihren Vater der Lächerlichkeit
preisgegeben hatte, auch hasste, empfand sie dennoch keine Genugtuung über ihren
Tod. Ihre Sorge galt jetzt einzig und allein ihrem Vater, wobei sie hoffte, dass
sich die Vorahnungen, welche sie hegte, bei ihrem Eintreffen als gegenstandslos
erweisen würden.
Ihr Vater – ein
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