Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
es ward um ihn geschehen.«
»Wie gesagt – deinen Humor wollte ich haben.«
»Und ich deinen Spürsinn, alter Freund. Jetzt
komm schon, was hast du erreicht?«
»Eine Menge«, erwiderte Bruder Hilpert mit Bedacht,
den Blick bald auf Berengar, bald auf die umliegenden Fachwerkhäuser gerichtet,
aus denen auch nicht das leiseste Geräusch auf die Straße drang. Die Stadt wirkte
trist und bedrückend und glich der Stimmung, in der er sich befand, aufs Haar. In
erster Linie lag dies natürlich an den Dingen, die er aus Irmtruds Mund erfahren
hatte. Dinge, die er nie und nimmer für möglich gehalten hätte. Wieder einmal tat
sich ein Abgrund vor ihm auf, und es kostete ihn einiges an Überwindung, über dessen
Rand zu blicken.
Ein weiterer und ungleich wichtigerer Grund
für seine Beklommenheit war indes die Schlussfolgerung, die sich aus dem Gespräch
mit der Gefangenen ergab. Bruder Hilpert stieß einen kaum hörbaren Stoßseufzer aus.
Zweifelsohne war er auf der richtigen Spur, wobei er sich fragte, welche Überraschungen
sie ihm noch bescheren würde. »Eine Menge.«
»Und was? Mach’s nicht so spannend, Bettelmönch,
sonst stehen wir noch morgen früh hier rum.«
»Dein Wunsch sei mir Befehl.« Als sei dies ein
Zeichen für ihn, begann der Bibliothekarius auf Berengars Anspielung hin zu erzählen.
Mit dem Ergebnis, dass die gute Laune seines Gefährten verflog. »Tja, sieht so aus,
als gäbe es eine Menge zu tun«, schloss Bruder Hilpert und sah den Vogt, der im
Verlauf seiner Schilderung immer wieder nachgehakt hatte, mit hochgezogenen Brauen
an. »Na, dann wollen wir mal, oder was meinst du, alter Freund?«
»Das Gleiche.«
»Wenn dem so ist, sollten wir uns als Erstes
die Person vorknöpfen, welche alles daran gesetzt hat, um in Irmtruds Zelle zu gelangen.«
»Eine Person, an deren Wohlergehen der Gefangenen
offenbar sehr viel liegt.«
Bruder Hilpert deutete ein Kopfnicken an. »Mal
sehen, was Bruder Alban dazu sagt. Am besten, wir machen gleich eine kurze Stippvisite
bei …«
»Nicht nötig, mein Sohn.«
Wie vom Donner gerührt, fuhren Bruder Hilpert
und Berengar herum. »Bruder Alban – ihr?«, entfuhr es dem Bibliothekarius, dem die
Überraschung über das lautlose Erscheinen des Lektors ins Gesicht geschrieben stand.
Berengar erging es ebenso, wie ein flüchtiger Blick auf den Gefährten bewies. »Darf
man fragen, was der Grund für Euer unvermutetes Auftauchen ist?«
»Die Not, mein Sohn, wie könnte es anders sein«,
entgegnete Bruder Alban, so aufgewühlt, dass es ihm schwerfiel, die richtigen Worte
zu finden. »Weißt du, es ist … es ist … Heilige Muttergottes, steh mir bei! Es ist
etwas Schreckliches passiert, mein Sohn.«
»Falls es sich um einen weiteren Fall von Diebstahl
handelt – was uns betrifft, sind wir bestens versorgt.«
»Mit so etwas macht man keine Scherze, Herr Vogt!«, giftete der Lektor
zurück, in einem Tonfall, den Bruder Hilpert an ihm nicht kannte. Dann wandte er
sich erneut an den Bibliothekarius, der nicht umhin kam, die hohe Stirn zu runzeln.
»Du musst kommen, mein Sohn, und zwar schnell!«, bedrängte er ihn und ergriff Hilperts
Unterarm, um die Dringlichkeit seines Anliegens zu bekräftigen. Dieser ließ es geschehen
und folgte dem väterlichen Freund auf dem Fuße.
»Und wohin, wenn die Frage gestattet ist?«
»An einen Ort, an den sich Mönche normalerweise
nicht begeben«, murmelte der Minorit, ganz und gar nicht mehr die Güte in Person.
»Aber das bist du ja mittlerweile gewohnt.«
»Amen!«, versetzte Bruder Hilpert mit unüberhörbarer
Ironie, wechselte einen vielsagenden Blick mit Berengar und folgte dem grimmigen
alten Mann auf dem Fuße.
19
Badehaus im Pfäffleinsgäßchen, gut vier Stunden nach Sonnenunterga │ [21.30 h]
Bartholomäus Aschenbrenner, von Beruf Bader, war des Lebens überdrüssig
geworden. Das sah man dem 56-Jährigen auch an. Das Antlitz, in dem die erlittenen
Demütigungen tiefe Spuren hinterlassen hatten, war von tiefen Furchen durchzogen,
sein Blick so fahrig und stumpf, dass der Eindruck entstand, er habe mit dem Leben
abgeschlossen. Vervollständigt wurde dieses Bild durch seinen schleppenden Gang,
die mürrischen Antworten, die er Bruder Hilpert gab, und durch die Mischung aus
Vorsicht, Skepsis und Argwohn, mit der er dem Bibliothekarius und seinen Begleitern
gegenübertrat. Ob dies ein Indiz dafür war, dass er seine nur etwa halb so alte
Ehefrau auf dem Gewissen hatte, vermochte Bruder Hilpert natürlich
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